Ahrensburg/Bad Oldesloe. Medizinerin war angeklagt, Patienten im Oldesloer Bahnhof getreten zu haben. Dabei griff der Mann offensichtlich sie an.

„Freispruch.“ Als Notärztin Silke S. (Name geändert) das Urteil von Strafrichter Paul Holtkamp hört, ringt sie sichtlich um Fassung. Die zuckenden Muskeln an ihren Wangenknochen lassen erahnen, welch ein Druck in den vergangenen Monaten auf der 39-Jährigen gelastet haben muss. im Einsatz, so lautete die Anklage. Ein Vorwurf, der die Medizinerin völlig unvermittelt getroffen und sie beruflich aus der Bahn geworfen hat. Und ein Vorwurf, an dem aus Sicht des Gerichts nichts dran ist.

Sogar die Staatsanwältin plädierte auf Freispruch, Verteidiger Michael Giese selbstverständlich auch. Reisende, die am 28. Februar 2013 Silke S. im Oldesloer Bahnhof vom Nachbarbahnsteig beobachteten, hatten die Ärztin angezeigt. Die drei Pendler, die auf den Zug nach Bad Segeberg warteten, waren sich einig, dass Silke S. den Patienten, einen volltrunkenen Mann, ins Gesicht geschlagen und mit dem Fuß zwischen die Beine getreten habe.

Der Patient von damals ist trotz intensiver Suche nicht zu finden

Am Ende des siebten Verhandlungstags hält es Richter Holtkamp für plausibel, dass in Wirklichkeit der Mann die Notärztin angegriffen hat. „Die Aussagen aller Zeugen bieten nur Versatzstücke, vieles ist unbeantwortet geblieben“, sagt er. „Aber es hätte durchaus so sein können, wie es die Ärztin geschildert hat.“

Silke S. hatte erklärt, dass sie den leblosen Mann an jenem Tag vor zweieinhalb Jahren mit der Hand im Gesicht getätschelt habe, um ihn aufzuwecken. Plötzlich sei er aufgesprungen und habe ihr gegen den Oberschenkel getreten. Um sich zu schützen, habe sie ein Bein hochgezogen und geschrien.

Diese Darstellung lässt sich für den Richter durchaus mit den Aussagen der drei Belastungszeugen aus dem Segebergischen in Einklang bringen. Die hatten von einer Ausholbewegung und einem Klatschen berichtet. Auf Nachfrage konnten sie aber nicht sagen, wo Tritt und Schlag gelandet seien. „Es fehlen genaue Feststellungen“, so der Richter, „eine Zeugin hatte zum Beispiel ihre Brille nicht auf.“

Rettungssanitäter und Bahnbedienstete hatten die Darstellung der Angeklagten in weiten Teilen bestätigt. Sie berichteten von „Kabbeleien“ und „Gerangel mit den Füßen“. Der Mann, der wohl eher Täter als Opfer war, verweigert sein Erscheinen im Ahrensburger Amtsgericht trotz mehrfacher Zeugenladung konsequent. Der inzwischen 25 Jahre alte Hans-Werner H. ist nach einer Haftentlassung in einem siebengeschossigen Wohnblock in Lübeck gemeldet. Dort steht sein Name auf einem Klingelschild, doch weder ein Gerichtshelfer noch Polizisten erreichten H. dort bei mehreren Versucher, wie Richter Holtkamp erklärt.

Er verweist darauf, dass die Strafprozessordnung in solchen Fällen eine Ausnahme von der direkten Befragung erlaubt. Wenn Anklage und Verteidigung einverstanden sind, kann ersatzweise die polizeiliche Vernehmung verlesen werden. Und so kommt es.

Am 18. Juni 2013 gab H. bei der Polizei in Hamburg zu Protokoll, dass er am Nachmittag des 28. Februar von einer Feier kam, bei der er ziemlich viel Alkohol getrunken habe. Er habe einen „Filmriss“ gehabt und wisse nicht, wie er in Bad Oldesloe aus dem Zug gekommen sei. Er müsse auf einer Bank eingeschlafen sein. Als er aufgewacht sei, habe er die Notärztin nicht als solche erkannt und sich womöglich bedroht gefühlt. Deshalb habe er die Frau „sehr grob weggeschubst“. Weiter heißt es: „Ich war in keinster Weise verletzt, hatte keine Beule oder Schramme oder sonst etwas.“ Deshalb stellte er auch keinen Strafantrag.

Sogar die Staatsanwältin sieht keinen Grund für eine Verurteilung

Am Ende resümiert sogar die Staatsanwältin: „Es gibt begründete und vernünftige Zweifel, die gegen eine Verurteilung und für einen Freispruch sprechen.“ So habe kein Zeuge den vermeintlichen Tritt oder Schlag gesehen, sondern nur Ausholbewegungen.

Verteidiger Michael Giese zieht einen Vergleich zu „Knallzeugen beim Autounfall“. Die würden erst durch den Lärm auf den Zusammenstoß aufmerksam, seien sich aber häufig sicher, den genauen Hergang gesehen zu haben. Giese: „Bezeichnenderweise kam die Anzeige von drei Zeugen, die am weitesten entfernt auf dem anderen Bahnsteig standen.“ Und alle drei konnten sich nicht erinnern, dass eine Zeitlang ein Zug im Weg stand.

Richter Holtkamp beschließt, dass der Staat die Verfahrenskosten trägt. Er sagt: „Die Ärztin ist erheblich belastet.“ Tatsächlich dürfte der Freispruch für Silke S. nur ein erster Schritt zurück in den Berufsalltag sein.