Hoisdorf. „Stormarn liest ein Buch“ startet am 24. April. Im Mittelpunkt Jennifer Teeges Autobiografie „Amon“ und ihr Familiengeheimnis.
Woher komme ich? Wer bin ich? Das sind ihre Lebensfragen. Und sie ist vollkommen ahnungslos. Dann geschieht das Wunder. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, gelangt Jennifer Teege, die mit vier Wochen in ein Kinderheim gebracht und mit sieben Jahren zur Adoption freigegeben worden ist, an den Ort, der ihr Anwort gibt. Eine, die sie aus den Angeln hebt. Eine, die sie aufgeschrieben hat. „Amon“ heißt ihr Buch, das bald in ganz Stormarn gelesen wird. „Amon“ heißt das Buch, so wie ihr Großvater – der Schlächter vom Konzentrationslager Plaszow bei Krakau, der wegen Massenmords 1946 zum Tode verurteilt und gehängt worden ist.
„Wer das Buch einmal in die Hand nimmt, kann es nicht wieder weglegen“, sagt Kreiskulturreferentin Tanja Lütje. „Es ist eine Geschichte, die eigentlich nicht wahr sein kann. So unfassbar ist sie.“ Jetzt wird sie die Menschen in Stormarn beschäftigen und berühren. Die Autobiografie der Hamburgerin Jennifer Teege steht im Zentrum der Veranstaltungsreihe „Stormarn liest ein Buch“, die am 24. April startet und mit rund 50 Veranstaltungen dazu auffordert, sich mit der unglaublichen Familiengeschichte und damit auch mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen.
Thema ist so vielschichtig, dass ein roter Faden nicht reicht
„Das Thema ist so vielschichtig, dass uns ein roter Faden wichtig war“, sagt die Kreiskulturreferentin, die das Mammutprojekt zusammen mit einer Arbeitsgruppe vorbereitet hat. Mit einem roten Faden allein ist es allerdings nicht getan. Drei Wochen dauert die Veranstaltungsreihe. Drei Themenstränge strukturieren das Angebot.
50 Veranstaltungen in drei Wochen
Lütje: „Zunächst geht es natürlich um die Familiengeschichte. Um den privaten, den psychologischen und den soziologischen Aspekt.“ Im Unterschied zur ersten Auflage der Veranstaltungsreihe, in der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge im Mittelpunkt stand, ist diesmal eine Autobiografie Träger der Reihe. Allerdings eine, die den Blick weitet. So geht es zweitens um den historischen Aspekt, die Aufarbeitung und Annäherung an das Geschehen in Nazi-Deutschland. „Und damit verbunden kommen unweigerlich drittens aktuelle Themen zum Tragen“, sagt Tanja Lütje. „Heute gehen Häuser für Asylbewerber in Flammen auf.“
Die Stormarn selbst haben das Buch ausgewählt. 2500 hatten im vergangenen Herbst ihre Stimme abgegeben. Zur Auswahl standen drei Werke: „3000 Euro“ von Thomas Meller, der von einer Liebe am Rande der Gesellschaft erzählt. Und auch „Ruhige Straße in guter Wohnlage – Die Geschichte meiner Nachbarn“ von Pascale Hugues, der davon schreibt, wie prachtvolle Jugendstilvillen neben Wohnblöcken stehen, die aus Kriegsruinen gestampft wurden. Stein gewordene Symbole verschütteter deutscher Geschichte.
Auch das Buch von Jennifer Teege legt Geschichte frei. Ihre und die der Deutschen. „Das Buch war von Anfang an leicht vorn“, sagt Tanja Lütje. „Aus dem leichten Vorsprung wurde zum Schluss des Votings ein deutlicher Abstand von rund 200 Stimmen.“ Für Jörg Schumacher ist das kein Zufall. „Das Thema passt in die Zeit“, sagt der Geschäftsführer der Sparkassenstiftungen. Sie bilden zusammen mit der Bürgerstiftung Stormarn und dem Kreis die Arbeitsgemeinschaft „Stormarn kulturell stärken“, die mit dem Reinbeker Rowohlt Verlag die Reihe „Stormarn liest ein Buch“ veranstaltet und mit rund 15.000 Euro finanziert.
Autorin wird in Ahrensburg und Reinbek lesen
Schumacher: „Wer die Zukunft gestalten will, muss vernünftig mit der Vergangenheit umgehen.“ Schwere Kost sei es dennoch. Einige Veranstalter, die beim ersten Mal dabei waren, beteiligen sich diesmal nicht. Tanja Lütje: „Dafür sind andere neu dabei.“
Die Besucher werden vor allem bei den Autorinnenlesungen in Ahrensburg und Reinbek miterleben, wie das Wunder, seiner Vergangenheit auf die Spur gekommen zu sein, zum Trauma werden kann. Mit 38 Jahren erfährt Jennifer Teege das dunkle Familiengeheimnis und gerät in eine Tiefe seelische Krise. Es war ein Buch, das ihr die Augen öffnete. Ihre leibliche Mutter hat es geschrieben, um sich mit ihrem Vater auseinanderzusetzen. Jenem KZ-Kommandanten Amon Göth, der in Spielbergs Film „Schindlers Liste“ die Zuschauer ratlos zurücklässt.
Das Buch der Mutter fällt Jennifer Teege in einer Hamburger Bibliothek in die Hände. Es ist ein Schock und wird der Auslöser, mithilfe der Journalistin Nikola Sellmair nun selbst ihre Geschichte aufzuschreiben. Untertitel: „Mein Großvater hätte mich erschossen.“ Ihre Großmutter wählt 1983 den Freitod. Tanja Lütje: „Und dann hat Jennifer Teege auch noch in Israel studiert. Das ist alle so unglaublich.“
Die Aktion M.u.T. (Menschlichkeit und Toleranz) beteiligt sich an der Reihe „Stormarn liest ein Buch“. Sie ist aus der Protestbewegung „Glinde gegen rechts“ hervorgegangen, die Jennifer Teegen mit einer Lesung unterstützt hat.
Am Sonnabend, 9. Mai, werden nun zwei Bücherbusse auf dem Glinder Marktplatz stehen, in denen aus der Autobiografie der Hamburgerin gelesen wird, aber auch aus Büchern, die auf dem Index der Nazis standen. „Die Veranstaltung dauert bis in die Nacht um 1 Uhr“, sagt M.u.T.-Mitglied Annika Leske. „Denn in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai wurden in Deutschland Bücher verbrannt.“