Den richtigen Ton treffen, Geschichten gut erzählen: Die Autorin Kirsten Boie über ihren Antrieb. Heute wird sie 65 Jahre alt.
Ahrensburg. „Paule ist ein Glücksgriff“ – der Titel ihres ersten Buches könnte das Motto von Kirsten Boie sein, und das trifft gleichermaßen auf ihr Leben und Werk zu. Zu Beginn erzählt die in Barsbüttel lebende Autorin, warum Paule ein besonderer Sohn ist, nämlich einer, der von seinen Eltern aus einem Heim geholt wurde, als er winzig war. Das Thema Adoption mag für ein Kinderbuch an sich schon außergewöhnlich sein, bemerkenswerter aber ist das Wie der Geschichte, denn auf wenigen Seiten ersteht ein kleiner Kosmos, eine mit emotionaler Wärme und Humor erzählte Geschichte, die junge Leser und Zuhörer gewinnt und zugleich erwachsene Vorleser anspricht. Typisch für Kirsten Boie.
Paule war für sie in doppelter Hinsicht ein Glücksgriff. Im wirklichen Leben hat die Autorin, die an diesem Donnerstag 65 Jahre alt wird, 1983 gemeinsam mit ihrem Mann einen Jungen adoptiert. Auch wenn ihr Sohn nicht Paule heißt, ist er im Debüt allgegenwärtig. Und er ist der Grund dafür, dass Kirsten Boie mit dem Schreiben begonnen hat. „Ohne ihn wäre ich niemals zur Autorin geworden“, sagt sie und erzählt, dass sie nach der Adoption eine Pause eingelegt hatte und dann wieder als Lehrerin einsteigen wollte. Doch das Jugendamt war dagegen. „Das ist heute kaum noch vorstellbar, aber damals war es so, wenn auch eher willkürlich als gesetzlich begründet. Das Kind wäre uns nicht weggenommen worden, aber wir wollten ein zweites.“ Paule sorgte für den Ausweg: „Beim Füttern meines Sohnes ist mir der Anfang des ersten Buches eingefallen.“ Sie begann zu schreiben und hatte eine neue Arbeit, gegen die das Jugendamt nichts einwenden konnte.
Kirsten Boie hat inzwischen fast 100 Kinderbücher veröffentlicht. Eine sehr bunte Welt, die von so unterschiedlichen Figuren bevölkert wird wie den „Kindern aus dem Möwenweg“, vom „Ritter Trenk“, „Seeräubermoses“ und Seejungmann „Nix“, dem Hofstaat von „Skogland“ und Meerschweinchen King-Kong. Gemeinsam ist ihnen allen, dass erst eine Idee vorhanden sein muss, bevor ein neues Buchprojekt daraus wird – das kann auch schon mal eine Initialzündung an einer roten Ampel sein, wo beim Warten plötzlich ein Bild vom Seeräubermoses aufblitzte, quasi die Grundkonstellation der Geschichte.
Bei jedem neuen Buch geht es um eine Idee, nicht um Verwertbarkeit
Generell gilt: „Ich schreibe keine Auftragsbücher. Auch die Reihen waren nicht als Serien geplant, sondern entwickeln sich Buch für Buch, wenn ich eine überzeugende Idee habe. Das hat nie etwas mit Tauglichkeit und Verwertbarkeit zu tun, was unter Marketingaspekten eher unklug sein mag, aber es geht bei mir nicht anders“, sagt Kirsten Boie. Neue Ideen können auch von den Kindern kommen, die rege mit ihr korrespondieren und sich zum Beispiel King Kong als Weltraum-, Krimi- oder Ballettschwein vorstellen. Manchmal gibt es dann bei der Autorin eine Initialzündung, die wieder zu einem neuen Buch führt.
Wer das Verhältnis zwischen Kirsten Boie und ihren jungen Lesern unmittelbar verstehen will, der sollte eine ihrer vielen Lesungen besuchen. Die Autorin hat die seltene Gabe, rasch die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu gewinnen, weil sie den richtigen Ton trifft und gute Geschichten gut erzählt, also nicht über die Köpfe von Kindern hinwegredet. Beim Lesen und Sprechen über Bücher gelte das Gleiche wie beim Schreiben, sagt sie: „Man muss Kinder ernst nehmen, aber als Kinder.“
Lesen ist eine Selbsterfahrung, die bereichernd wirkt
Bei ihren vielen öffentlichen Auftritten hilft, dass sie als Lehrerin gearbeitet hat, also auch schwierige Situationen meistern kann: „Das ist ein Riesenglück. Insbesondere jungen Kollegen fehlen oft die Werkzeuge dafür. Autoren sind eher stille Menschen, aber es ist für den Beruf überlebensnotwendig, sich zu präsentieren.“ Kirsten Boie empfindet diesen Teil ihrer Arbeit als besonders bereichernd. „Es macht immer wieder Spaß, obwohl Kinder gnadenlos sein können und sich verabschieden, wenn sie sich langweilen. Aber ihre Lebendigkeit ist anregend, und sie sind ehrlich.“
Außerdem bleibt so der Kontakt zur Basis. Boie sieht unmittelbar, wie sich Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen noch verstärkt haben: „Bei buchfern aufwachsenden Kindern stellen sich nicht so leicht innere Bilder ein. Nur über Worte passiert nichts bei ihnen.“ In solchen Situationen wechselt Boie zur freien Erzählung oder zum Gespräch. Auch – oder gerade – im digitalen Zeitalter gehe es darum, Kinder für Bücher und Geschichten zu gewinnen. Lesen, also die Erschließung der Welt durch Buchstaben, ist für die Autorin nicht nur Schlüsselqualifikation, sondern Selbsterfahrung, die bereichert.
„Als Autorin bin ich in allen meinen Charakteren präsent, im 85-jährigen blinden Milliardär ebenso wie im kasachisch-deutschen Zehnjährigen. Im Kopf des Lesers passiert von der Grundstruktur her das gleiche. Emotional und von den konkreten Bildern her erlebt er sein ganz eigenes Buch. Es ist die Stärke vom Lesen im Gegensatz zu anderen Medien, dass man dabei eigene Erfahrungen rekonstruiert und Gefühle unbewusst reaktiviert und bearbeitet. Deshalb hat Lesen so etwas wie eine therapeutische Qualität. In der Welt des Buches ist man gleichzeitig stark bei sich selbst.“ Und bei anderen, denn Lesen stärkt auch das Einfühlungsvermögen in andere, also die Empathie.
Kirsten Boie ist bestes Beispiel dafür. Sie engagiert sich vielfältig, vor allem für das Projekt „Hand in Hand Neighborhood Care Points“, das 5500 Waisenkindern in dem von Aids heimgesuchten kleinen afrikanischen Staat Swasiland hilft. Dort geht es seit Jahren um die Versorgung vieler sehr junger elternloser Kinder mit dem Nötigsten. Nächster Schritt sind leicht verständliche Schulbücher und ein Elementarunterricht. Damit die Kinder lernen, bessere Welten für sich zu erschließen.