Immer in der Balance: In Glinde gefertigtes Kunstwerk soll Ästhetik, Medizin und Philosophie verbinden. Sie reist jetzt durch den Norden.
Ammersbek/Glinde. Er hängt am Kunstwerk. Emotional. Und körperlich. Mit einem Klimmzug zieht sich Axel Richter nach oben und schwebt über dem Boden. Ein Mann von 1,84 Metern und 80 Kilogramm. Er ist jetzt Teil der Skulptur. Das macht ihr nichts aus. „Das ist so gedacht“, ruft der Ammersbeker nach unten. „Die Betrachter sollen eben nicht nur schauen, sondern ruhig daran ziehen und das Objekt in Vibration bringen.“
Die Skulptur geht mit den Bewegungen mit. Sie trägt den Kunstbetrachter, der zum Akteur geworden ist, ohne dass sich die Edelstahlrohre verbiegen. Ohne aus der Balance zu geraten. Die Konstruktion schwingt und bleibt doch stabil. Dabei schwebt das Kunstwerk, das wie ein galaktisches Objekt vom Gelände der Glinder Firma IFT abzuheben scheint, mit nur einem Auflagepunkt selbst in der Luft.
Es ist ein Wunderwerk der Konstruktion, der Schweißnähte und der Stahlpolyesterseile, die neun Edelstahlrohre zusammen- und einen Zug von 3000 Kilogramm aushalten. Da könnten sich 30 Axel Richters dranhängen. Es ist aber auch eine hochprofessionell zusammengeschraubte und auf Hochglanz polierte Hommage an den US-amerikanischen Architekten und Visionär Richard Buckminster Fuller. Er war es, der in 60er-Jahren das dahinterstehende Tensegrity-Prinzip erforschte, das Festigkeit und Elastizität ins Gleichgewicht bringt und innere und äußere Mobilität versinnbildlicht. Tens bedeutet Spannung. Integrity Ganzheit.
„Ganzheiten durch Bewegung“ heißt daher auch das Ausstellungs-Projekt, das Axel Richter als Leiter des evangelischen Ammersbeker Kunsthauses angeschoben hat. Und so wird das in sich mobile Objekt seinem Charakter gemäß sich auch äußerlich in Bewegung setzen und tatsächlich von Glinde aus abheben: nämlich zu einer Reise quer durch das gesamte Gebiet der Nordkirche.
„Zuerst geht es in die St. Jacobi-Kirche nach Hamburg“, sagt der Ammersbeker. Die Schwebe-Skulptur wird im Südschiff des Gotteshauses landen – vor dem Lukas-Altar. Vielleicht kommt auch Star-Architekt Norman Foster am 29. März zur Eröffnung der Ausstellung. „Wir laden ihn auf jeden Fall ein. Warum nicht“, sagt Axel Richter. Er hat schon so viel in Bewegung gesetzt. Vielleicht gelingt ja auch das. Richter: „Immerhin war Buckminster Fuller ein Lehrer Fosters.“
Vier Jahre sind seit der ersten Idee vergangen
Ob mit oder ohne Prominenz, das Projekt ist auch so ein Erfolg und vor allem ein Beweis für die Hartnäckigkeit des Ammersbeker, der in diesem Fall nicht als Bildhauer, sondern als kirchlicher Kunst-Manager fungiert. Vier Jahre hat es gedauert, bis die Idee in die Tat umgesetzt werden konnte. Und 20.000Euro hat es gekostet. Die Finanzierung war der wunde Punkt der Projekt-Konstruktion, die sich aber als genauso tragfähig und stabil erwiesen hat wie das Objekt selbst.
Richter: „7000 Euro habe ich aus dem Etat für das Ammersbeker Kunsthaus genommen. Für den größeren Teil habe ich Sponsoren werben können.“ Dann kam allerdings noch das Problem, die richtige Firma zu finden. Richter: „Ich hatte zuerst an den Ammersbeker Schmied gedacht. Aber das ging nicht.“
„Das ging gar nicht“, sagt es Hans Lindemeier noch ein bisschen deutlicher. „Der Schmied bearbeitet Schwarzstahl. In einer solchen Werkstatt rostet Edelstahl sofort. Allein schon durch den Funkenflug.“ So kam der Auftrag über Umwege in seine Glinder Firma. Der Geschäftsführer der ITF-Schweißtechnik sagte sofort Ja und betrat Neuland.
„Ein Kunstwerk? Nein“, sagt Lindemeier. „So etwas haben wir hier noch nie hergestellt. Wir produzieren Edelstahlwannen für die Farbindustrie oder Rohre, durch die Bier oder Milch fließen. Aber alle Mitarbeiter waren hoch motiviert.“ Der Schweißer, der Kupferschmied, der Polierer. „Manchmal hat die ganze Crew um das werdende Kunstobjekt herumgestanden und gerätselt, wie es funktionieren könnte“, sagt der ITF-Geschäftsführer. Dieses Mal ergänzt Axel Richter pointierter: „Die Hälfte der Mitarbeiter haben wir beschäftigt. Die andere Hälfte haben wir verrückt gemacht.“
Medizin-Professor ließ sich von künstlichem Hüftgelenk inspirieren
„Schuld“ daran ist allerdings nicht Axel Richter, sondern ein Professor der Medizin: Claus-H. Siemsen, seines Zeichens Orthopäde, dem es unter anderem um die Anatomie von künstlichen Hüftgelenken geht. „Also zugleich um die größtmögliche Beweglichkeit und Festigkeit“, sagt Axel Richter, der den Mediziner vor zehn Jahren kennengelernt hatte. Richter: „Er kam an einem Tag der offenen Tür in die Gießerei Wittkamp, in der meine Bronzen entstehen.“ Drei Jahre später beauftragte der Buxtehuder den Bildhauer mit einer Plastik. Richter: „Als ich bei ihm zu Hause war, hat er mir ein Modell gezeigt, das er entworfen und gebaut hatte. Ich war fasziniert.“
Aus dem Modell ist jetzt eine schwebende Skulptur geworden: 3,60 Meter lang, 78,5 Kilogramm schwer. Richter: „Eigentlich sollte sie doppelt so groß werden. Dann hätte der TÜV das Objekt allerdings abnehmen müssen.“ Und das Projekt wäre noch teurer geworden. „Außerdem passt es so durch jede Kirchentür“, sagt der Ammersbeker, der die Skulptur mit einer Botschaft auf Reisen schickt.
Richter: „Beim Tensegrity-Prinzip geht es auch um den Einsatz der geringsten Mittel mit dem größtmöglichen Effekt.“ Das berühmteste Beispiel dafür ist Ausstellungspavillon des Forschers für die Weltausstellung 1967 in Montreal: eine Kuppel mit einfachsten geometrischen Grundkörpern, extrem stabil und mit geringstem Materialaufwand geschaffen – ressourcenschonend. Der Forscher als Vordenker der heutigen Öko-Bewegung.
„Wer unser Objekt aufstellt, setzt ein Zeichen für Nachhaltigkeit“, sagt Richter. Genau dafür stehe das Kunsthaus am Schüberg, das Teil des Ammersbeker Bildungszentrums der Nordkirche für nachhaltige Entwicklung sei. „Da liegt auch der Schöpfungsgedanke ganz nahe.“ Und außerdem symbolisiere die Skulptur mit ihren drei mal drei Edelstahlrohren den Zellverband und damit das Urbild des Lebens.
So leicht und schwebend die Skulptur wirkt, so komplex ist das, was sie transportiert. Sie verbindet nicht nur Edelstahlrohre mit Spezialseilen. Richter: „Sie verbindet Ästhetik, Medizin und Philosophie.“ So wie Buckminster - Fuller ein Kosmopolit war und globale und kosmische Sichtweisen propagierte. „Wir sind alle Astronauten“ hat er einmal gesagt. Die durch die Nordkirche reisende Skulptur ist wohl tatsächlich ein galaktisches Objekt, das den Betrachter zum Handeln auffordert und in eine andere Welt mitnimmt.