Kommunalpolitik – wie funktioniert das? Im elften und letzten Teil unserer Serie erklärt Hartwig Martensen, Präsident des Verwaltungsgerichts in Schleswig, welche Aufgaben seine Mitarbeiter und er haben.

Schleswig. Die kommunalpolitische Familie in Schleswig-Holstein ist im Großen und Ganzen ziemlich intakt. Das sagt einer, der von ganz oben darauf schaut, aus dem hohen Norden nämlich, wo es nicht mehr weit ist bis nach Dänemark. Hartwig Martensen sitzt in seinem Büro im zweiten Stock des Justizgebäudes am Rande des 24.000-Einwohner-Städtchens Schleswig, hier hat das Verwaltungsgericht seinen Sitz. Der gelernte Landwirt und promovierte Jurist Martensen ist der Präsident. Und der Vorsitzende der Kammer für Kommunalrecht.

„Ich schätze, dass es im Land rund 20.000 Menschen gibt, die in die Kommunalpolitik involviert sind“, sagt Martensen. „Pro Jahr werden aber nur etwa 20 Kommunalstreitverfahren an uns herangetragen.“ In Kommunalwahl-Jahren, ergänzt er, seien es noch mal 20 bis 30 zusätzlich, typischerweise Wahlanfechtungen. „Unterm Strich kommt das Verwaltungsgericht also nur relativ selten ins Spiel.“

Das vergangene Jahr war so ein Kommunalwahl-Jahr. An eine Anfechtung denkt der 53-Jährige besonders gern zurück. „In einer Gemeinde waren die Stimmzettel von 2008 ausgeteilt worden. Das Kuriose: Die Namen aller Kandidaten von 2008 waren identisch mit denen von 2013. Alle bis auf einen: Der FDP-Kandidat war ein anderer.“ Die Sache fiel allerdings erst gegen 12 Uhr auf, ein älterer Herr war stutzig geworden. Mag sein, dass er FDP-Wähler war, doch derlei Fragen interessieren Richter Martensen nicht. „Die entscheidenden Fragen lauteten: Lag ein Wahlfehler vor? Und war der ergebnisrelevant?“ Die erste Frage beantwortete er mit Ja – „weil zu einer Wahl nun mal die richtigen Stimmzettel gehören.“ Die zweite Frage beantwortete er mit einem Nein. Auch der richtige Name, so seine Einschätzung, hätte der FDP nicht zu mehr Stimmen verholfen. Anfechtung abgewiesen.

Windenergie beschäftigt Verwaltungsrichter immer öfter

Andere Themen ziehen weitere Kreise, ein Komplex beschäftigt die Kammer für Kommunalrecht in zunehmendem Maße: Wind in all seinen Facetten. Wo darf er zu Energie gemacht werden? Wann ist ein Bürgerbegehren dagegen zulässig und wann nicht? Was passiert, wenn in einem kleinen Ort alle Mitglieder einer Gemeindevertretung befangen sind? „Mit Windenergie wird richtig Geld verdient“, sagt Martensen. Das wirft eine besonders spannende Frage auf: Wer darf Geld verdienen?

Der Fall, an den sich Richter Martensen erinnert, spielte in einer kleinen Gemeinde im Norden des Landes, die einen Windpark bauen und betreiben wollte. Sie hatte nur einen sehr geringen Anteil Eigenkapital. Die Kommunalaufsicht beim Kreis hielt das Projekt für rechtswidrig, und so kam die Geschichte nach Schleswig. Hartwig Martensen urteilte: Vergesellschaftung des Windes geht nicht. „Hier mit Steuergeld unternehmerisch tätig zu werden ist keine zulässige Aufgabe einer Kommune“, erklärt er. Hätte die Gemeinde einen Bürgerwindpark geplant, dessen Gesellschafter Privatpersonen geworden wären, hätte die Lage vielleicht ganz anders ausgesehen. Martensen spricht im Zusammenhang mit Windenergie von „Goldgräberstimmung“. „Da kann auch mal ein Windei bei rauskommen.“

Trotzdem: Streit innerhalb einer Gemeindevertretung, zwischen Gemeindevertretung und Bürgermeister, zwischen Kommune und Kommunalaufsicht bleien die Ausnahme. Weil die kommunalpolitische Familie in Schleswig-Holstein eben im Großen und Ganzen ziemlich intakt sei. Sie machen insofern auch nur einen kleinen Teil aller Verfahren aus; 2013 hat das Verwaltungsgericht 5653 neue Fälle registriert. Die meisten von ihnen gehen auf die Initiative von Bürgern zurück, die außerhalb der kommunalpolitischen Familie stehen, die mit deren Arbeit und vor allem den Resultaten nicht so zufrieden sind. „Das ist dann aber kein klassisches Kommunalrecht mehr“, sagt Martensen.

Dann klagen Bürger, weil ihnen eine Baugenehmigung versagt worden ist. Oder weil ihre Kinder bei der Vergabe von Kindergartenplätzen nicht berücksichtigt worden sind. Oder – das kommt mit Abstand am häufigsten vor – weil sie ihrer Meinung nach zu viel für irgendetwas zahlen sollen. „Da werden dann Klagen mit starken Worten geführt“, sagt Harald Alberts, Pressesprecher des Gerichts, auch er ein Verwaltungsrichter mit Doktor-Titel. „Beim Geld hört die Freundschaft auf, auch wenn es nur um relativ kleine Beträge geht.“ Und Martensen selbst ergänzt: „Wenn wir diesen Bereich mit dazuzählen, dann haben wir Tausende von Verfahren.“

Der allerdings zähle klassischerweise gar nicht zum Kommunalrecht, Martensen spricht von „der zweiten Stufe“. Weil es nicht um Beschlüsse und deren Zustandekommen gehe, sondern um deren Auswirkungen. Der Gerichtspräsident erklärt: „Kein Bürger kann dahingehend klagen, dass ein Beschluss der Gemeindevertretung rückgängig gemacht werden soll. Er kann aber gegen die daraus resultierende Satzung oder Bescheide vorgehen, sofern sie ihn betreffen.“ Voraussetzung: Der Beklagte muss eine staatliche Instanz sein.

Die Kosten für die Müllabfuhr sind ein gutes Beispiel. „Die ist ja immer zu teuer“, sagt der Richter schmunzelnd. Sofern beispielsweise die Kreise Träger der Abfallwirtschaft sind, verschicken sie Gebührenbescheide. Denen können die Gebührenzahler widersprechen und – wenn ihr Widerspruch zurückgewiesen wird – dagegen vor dem Verwaltungsgericht klagen. Sind hingegen kommunale Gesellschaften Träger der Abfallwirtschaft, sieht die Sache anders aus. Dann ist der Bürger kein Gebührenzahler, sondern Kunde. Er bekommt keinen Gebührenbescheid, sondern eine Entgeltrechnung. Die Folge: Nicht das Verwaltungsrecht wäre einschlägig, sondern das Bürgerliche Gesetzbuch, nicht der Verwaltungsrichter zuständig, sondern ein Amtsrichter mit dem Schwerpunkt Zivilrecht.

„Viele Menschen meinen, die ganze Materie sei ziemlich trocken“, sagt Hartwig Martensen, der seit 2011 Präsident des Verwaltungsgerichts ist. „Aber das stimmt nicht. Sie ist sehr lebendig, weil hinter jedem Fall Menschen stehen.“ Der Mann von ganz oben, aus dem hohen Norden, muss es wissen. Er hat sich selbst 32 Jahre lang kommunalpolitisch engagiert.