Mit Abendblatt-Redakteur Harald Klix (Abitur 1982) und Hospitantin Antonia Mayer (Abitur 2013) spricht Müller aus Anlass seiner Pensionierung darüber, wie sich der Lehrerberuf verändert hat.

Ahrensburg. Jede Generation ist die dümmste“: Das ist der Titel der letzten Revue, die Jürgen Müller, Lehrer für Deutsch und Geschichte sowie Gründer der Kabarett-AG am Heimgarten-Gymnasium in Ahrensburg, mit aktuellen und ehemaligen Schülern inszeniert hat. Humorvoll blickt er auf vier Jahrzehnte Schulgeschichte zurück – und verabschiedet sich mit 65 Jahren in den Ruhestand. 37 Jahre seines Berufslebens hat Müller am Heimgarten verbracht, dabei Tausende von Jugendlichen auf dem Weg zum Abitur begleitet. Heute unterrichtet er auch etliche Kinder seiner ehemaligen Schüler.

Dass er dem Gymnasium treu blieb, lag auch an einer unglücklichen Auslandsbewerbung. Der in der DDR aufgewachsene Müller stellte die Bedingung, nur in ein demokratisches Land zu gehen, das die Menschenrechte hoch schätzte. Er hoffte auf die USA, wo er studiert hatte, oder Skandinavien. Doch das erste Angebot war die japanische Hauptstadt Tokio („Da wäre ich mangels Sprachkenntnissen immer außen vor geblieben“), das zweite Johannesburg in Südafrika („Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Apartheid“). Als ihm dann die Europäische Schule in München angedient wurde, schrieb Müller zurück, dass er zwar ins Ausland wolle, aber nicht ins feindliche. „Danach wurde mir meine Bewerbung wortlos zurückgeschickt.“

Heute lacht er über die Episode. „Ein Leben ohne Humor ist ohnehin sinnlos“, sagt er. Ebenso wichtig ist ihm die Kultur. Für Kino- und Theaterbesuche hat er künftig mehr Zeit. Wobei eines für den Hobbysportler (Laufen und Tennis) für die Zeit nach dem letzten Schultag feststeht: „Ich werde weiterhin früh aufstehen.“

Hamburger Abendblatt: War früher alles besser?

Jürgen Müller: Es war einiges anders und vielleicht auch einiges besser. Aber nicht alles. Ganz bestimmt nicht.

Wie hat sich denn das Lehrerdasein verändert?

Müller: Erst mal wird man nicht jünger, sondern älter. Da fällt einiges schwerer. Und dann sind ja viele der Reformen nicht mit dem Einverständnis von Schülern, Lehrern und Eltern vonstatten gegangen. Das Kurssystem wurde abgeschafft, die Profiloberstufe eingeführt. Dann ist das Gymnasium, das früher ja mal eine Bildungseinrichtung war, heute zu einem gewissen Grad ein Dienstleistungsbetrieb geworden.

Das heißt, dass sich der Schwerpunkt vom Unterrichten und Lernen aufs Erziehen verschiebt?

Müller: Erziehung spielt sicher eine wichtigere Rolle. Was man von der Schule erwartet, ist einfach größer geworden. Die Schüler sind in größerem Maße Punktejäger geworden – und die Eltern auch. Zensuren spielen eine viel größere Rolle. Wir haben immer noch viele tolle Schüler, aber es drängen auch viele auf das Gymnasium, die es früher dort nicht hinverschlagen hätte. In den Achtzigern gingen in Schleswig-Holstein 30 Prozent der Kinder aufs Gymnasium, heute sind es mehr als 50 Prozent. Damals wurden die Klausuren in der Oberstufe vier- bis sechsstündig geschrieben. Jetzt sind es zwei Stunden. Nur die Vorabi- und die Abi-Klausuren sind länger.

Viele Lehrer halten dem Stress nicht bis zur regulären Pensionierung stand. Wie schafft man das?

Müller: Wenn ich Marathon laufe, laufe ich bis zum Ziel. Und als ich Lehrer wurde, war mir klar, dass ich das bis 65 mache. Es gibt ja immer noch vieles Schöne an diesem Beruf. Und auch Erleichterungen. Die Klassen sind in der Regel kleiner geworden. Die Korrekturen sind weniger geworden, weil man ja weniger und kürzere Arbeiten schreibt.

Und die andere Seite?

Müller: Was im Alter ein wenig nervig ist, sind die Konferenzen. Man hat den Eindruck, das ist immer das Gleiche. Das ist dann nur schwer zu ertragen.

Kennen Sie die Diskussionen nicht schon auswendig?

Müller: Über kurz oder lang sind es immer dieselben Themen. Man merkt aber auch, dass die Zeiten härter geworden sind. Und dass die Eltern darauf drängen, dass ihre Kinder das Abitur bekommen. Es ist ein Prestigeobjekt geworden, wie es in den 70er-, 80er-Jahren nicht der Fall war.

Mischen sich die Eltern auch mehr ein? Es ist ja häufig von Hubschraubereltern die Rede.

Müller: Das fängt schon jeden Morgen an. Kurz vor Schulbeginn kreisen hier so viele große Autos, um einzelne Kinder abzusetzen, dass man da gar nicht mehr durchkommt. Ein anderes Beispiel: Früher gab es keine Elternvertreter mehr, wenn die Schüler 18 wurden. Und wenn man mit den Eltern sprechen wollte, musste man die Schüler vorher informieren, ob sie das überhaupt wollten. Heute kommen die Eltern bis zum 13. Jahrgang, und die Schüler sind damit auch ganz einverstanden. Eltern nehmen ihre Verantwortung heute auch gern bis zum Abitur wahr.

Gibt es Unterrichtsmethoden, die sich über die ganze Zeit bewährt haben?

Müller: Jeder Lehrer hat seinen Stil und seine Persönlichkeit, und die bringt er natürlich auch ein. Das kommt bei einigen gut an und bei anderen vielleicht nicht so gut. Den Versuch, allen zu gefallen, sollte man in unserer pluralistischen Gesellschaft lieber sein lassen.

Und die Rahmenbedingungen?

Müller: Die technischen Möglichkeiten haben sich natürlich verändert. Wenn ich denke, wie die Schule ausgerüstet war mit Filmprojektoren...

... und mit dem Sprachlabor.

Müller: Ja, man dachte damals, das sei das Tollste für alle Ewigkeit. Nach kürzester Zeit flog das alles raus. Die Medien haben viel verändert. Früher wäre keiner freiwillig auf die Idee gekommen, ein Referat zu machen. Wenn heute ein Schüler mit seiner Zensur nicht zufrieden ist, kommt er alle drei Minuten und fragt: Kann ich noch ein Referat halten? Kann er natürlich wunderbar herunterladen bei Wikipedia und aus anderen Quellen. Dann wird ein großer Powerpoint-Vortrag an die Wand geworfen, bei dem einem die Füße einschlafen.

Hat sich auch die Kommunikation verändert?

Müller: Am Anfang hatten wir Lehrer ein kleines Postfach, da konnten wir am Ende der Woche reingreifen und alles herausholen. Heute fühlt sich jeder befleißigt, ständig irgendwas per E-Mail zu schreiben und abzuschicken.

Prasseln zu viele Informationen auf einen ein?

Müller: Ja, sicher. Früher reichte es aus, wenn man seiner Klasse sagte, wir treffen uns am Mittwochabend um 19.30 Uhr und gehen ins Kino. Heute muss man zwei Wochen vorher schriftlich einladen und das am besten noch von den Eltern unterschreiben lassen, damit es zur Kenntnis genommen wird.

Ist der bürokratische Aufwand insgesamt größer geworden?

Müller: Ich war hier als Referendar der Erste, der mit seinen Schülern die Zensuren besprochen hat. Da wurde ich auf der Konferenz heftigst angegriffen: Man sollte sich seinen pädagogischen Spielraum nicht kaputt machen lassen. Heute muss man Zensurenbesprechung alle sechs Wochen im Klassenbuch eintragen. Und nicht mehr mit allen gemeinsam, sondern einzeln, was für mich völlig widersinnig ist. Da sitzt dann ein Lehrer mit einem Schüler vor der Tür. Dabei kann ich meine Leistung doch nur einordnen, wenn ich sehe, was ein anderer für eine Note bekommt. Wenn ich allein durch den Wald laufe, denke ich, ich könnte Olympiasieger werden. Im Rennen merke ich dann, dass das vielleicht doch nicht ganz so toll ist.

Noch mehr Beispiele?

Müller: Diese urlangen und immer wieder gleichen Kopfnoten. Früher bekamst du fürs Betragen ein Gut, heute stehen da Sätze wie „Löste seine Konflikte gewaltfrei“. Das hört sich so an, dass Gewalt die Regel ist und dass es schon ein großes Lob ist, wenn man Konflikte anders löst. Das sind Veränderungen, die ich nicht nachvollziehen kann. Ich tue mich schwer damit, wenn man einen Menschen mit einer solchen Formulierung so festlegt.

Hätten sie auf einige Erlebnisse in ihrer Karriere lieber verzichtet?

Müller: Es gibt, wie immer im Leben, im Umfeld mit so vielen Leuten tragische Ereignisse. Dass Schüler sterben oder auch Kollegen.

Und was bleibt besonders positiv in Erinnerung?

Müller: Da sind sehr viele Dinge. Studien- und Klassenfahrten, aber auch tolle Leistungen von Schülern. Ob beim Sport oder auch in den AGs wie bei den Revuen entwickeln sich Beziehungen, die über das typische Verhältnis Lehrer-Schüler hinausgehen. Da freut man sich, wenn man nach zehn Jahren zur Promotions- oder Hochzeitsfeier eingeladen wird. Oder wie jetzt zu einem 30. Geburtstag. Ein anderer hat mir mal eine HSV-Karte geschenkt. Unterschiede gibt es da nicht: Ich hab auch zu vielen Schülern, die nicht so gut waren, noch freundschaftlichen Kontakt.

Wie viele Schüler waren es genau?

Müller: Keine Ahnung. Ich gehöre zu denjenigen, die Mathematik und Statistik ablehnen. Darum hab ich nie mitgezählt.

Wie Harald Klix (Abitur 1982) Müller in Erinnerung hat

Es ging um Mackie Messer. Mehr weiß ich nicht mehr. Und mehr wusste ich auch damals nicht, in der sechsten Schulstunde, so um halb eins an einem Mittwochmittag im März 1981. Deutschlehrer Jürgen Müller hatte eine einfache Frage zu dem Text von Bertolt Brecht gestellt – und meinen Namen genannt. Das hatte ich gerade noch mitbekommen, denn ich war kurz vor dem Wegnicken. „Harald, warum antworten Sie nicht? Das haben wir doch gerade gestern durchgenommen!“ Fassungslos sah mich der Lehrer an. „Weiß ich nicht“ war alles, was ich sagen konnte. Zweimal hakte Müller noch nach, dann gab er auf und ließ mich den Rest der Stunde mit der Interpretation von Bänkelliedern in Ruhe. Vergessen hatte er den Aussetzer natürlich nicht: Die nächste Deutsch-Doppelstunde verlief zum großen Teil im Dialog zwischen uns, und diesmal hatte ich viele ausgeschlafene Antworten parat.

Denn dass ich so müde war, lag weder an Brechts Versen noch an Müllers Unterricht. Ich hatte zuvor von elf bis sieben Uhr während der Nachtschicht in der Springer-Druckerei „Hörzu“-Pakete auf Paletten gestapelt. Frisch geduscht ging es direkt zur Schule. Die ersten drei Stunden vergingen wie im Flug, nicht zuletzt wegen der Freude über ein prall gefülltes Portemonnaie. Denn der Lohn wurde damals am Ende jeder Schicht in einer Tüte direkt ausgezahlt. Doch ab 11 Uhr wurde jede Minute zur Qual, mir fielen die Augen zu.

Jürgen Müller nahm’s mit Humor und mich bei nächster Gelegenheit dauernd dran.

Diese Kombination von Freiheit und Grenzen galt auch für Klassen- und Studienfahrten. Nachts durften wir den Zapfenstreich schon mal ein bisschen ausdehnen, wenn wir morgens früh zum Joggen mit Herrn Müller vor der Tür standen. Das war so in der siebten Klasse auf Sylt und auch in der elften in Berlin. Wie aktuelle Schüler berichten, hält der Dauerläufer an dieser Tradition immer noch fest.

Wie Antonia Mayer (Abitur 2013) Müller in Erinnerung hat

Und wieder zieht er an mir vorbei. So schnell, dass ich in der Hitze nur noch seinen verschwommenen Schatten wahrnehmen kann. Mein Deutschlehrer. Das war während meines letzten Unesco-Laufes. Obwohl – eigentlich war das jedes Jahr so. Über die Jahre scheint er nicht nur an Lebensweisheit, sondern auch an körperlicher Fitness gewonnen zu haben.

In der fünften und sechsten Klasse begann meine Geschichte mit ihm. Er war mein erster Deutschlehrer am Gymnasium und führte mich ein in die Welt, in der es um mehr als nur um Schreibschriftlernen ging. Ab der Oberstufe stockte er dann auf: Es war vorbei mit Diktaten und Grammatikübungen. Mit Leidenschaft wurden uns Goethes Gedichte, Kafkas Werke und Brechts Kurzgeschichten nahe gebracht. Er hatte hart zu kämpfen in einer Klasse, die aus acht Mädchen des Sprachprofils und acht männlichen Naturwissenschaftlern bestand. Anders als vielleicht angenommen, zeigten jedoch auch die Sprachlerinnen das eine oder andere Mal Widerstand. In einer Klausur zu Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ wagte ich zu schreiben, dass mir der Roman deshalb nicht gefalle, weil ich den Schreibstil zu übertrieben und romantisch fände. Als ich die korrigierte Klausur wiederbekam, fand ich in meinem Heft eine halbe Reportage in Rotschrift zum Thema, wie außerordentlich wichtig und großartig Goethes Werke seien. Von diesem Punkt an riskierte ich kein weiteres urteilendes Wort über König Goethe.

Ob ich seine Einstellung nun teilte oder nicht – seine Meinung war eine der wenigen, die ich mir von den Lehrern wirklich zu Herzen genommen habe. Schon öfter habe ich mich dabei erwischt, wie ich mir gewünscht habe, irgendwann eine ähnliche Mischung aus Humor, Weisheit, Bildung und Gelassenheit zu erreichen. Mir ist bewusst, dass diese Mission durchaus schwierig zu erreichen sein wird.

Mit der Tatsache, dass ich nie so sportlich sein werde, habe ich mich abgefunden.