Er schreibt seit 25 Jahren. Sein erster Roman “In Zeiten des abnehmenden Lichts“ bringt Eugen Ruge nun den großen Erfolg. Heute liest er in Ahrensburg

Ahrensburg. Die Stormarner entschieden sich schneller als die Jury: Als die Fachleute Eugen Ruge den Deutschen Buchpreis verliehen, hatten die Stormarner schon ein klares Votum für seinen Debüt-Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" abgegeben. Es wird im Zentrum der Veranstaltungsreihe "Stormarn liest ein Buch" stehen. Am 8. Mai kommt Ruge ins Schloss Reinbek. Heute liest er im Ahrensburger Marstall. Das Abendblatt sprach mit ihm über seine Erfolgsgeschichte.

Hamburger Abendblatt:

Sie sind zurzeit ein sehr gefragter Mann.

Eugen Ruge:

Ich blättere in meinem Terminkalender und gucke nach, was ich als Nächstes mache. Weiter reicht mein Horizont momentan nicht (sucht im Kalender). Ah, hier steht's: Marstall.

Die wievielte Lesung wird das sein?

Ruge:

Das ging schon im April los. Da war das Buch noch nicht auf dem Markt. 50 Lesungen sind es bestimmt schon.

Und das wievielte Interview ist das jetzt?

Ruge:

Keine Ahnung. Unmittelbar nach der Preisverleihung wurde ich in einen Raum geführt. Da waren es schon 20 Interviews, in der ersten Stunde!

2009 bekamen Sie für das Buch bereits den Alfred-Döblin-Preis.

Ruge:

Ja, dafür bin ich sehr dankbar. Ich hatte erst vier Kapitel fertig. Von 20! Der Preis hat mich beflügelt und meine finanzielle Situation erheblich entspannt. Es hat mir ermöglicht, das Buch zu Ende zu schreiben.

Mehr als 200 000 Exemplare sind mittlerweile verkauft. Sie sind jetzt reich?

Ruge:

(lacht) Ich verdiene jetzt recht gut. Aber ich schreibe seit 20 Jahren, Theaterstücke und Hörspiele. Und da gab es schon sehr schlechte Zeiten. Es ist auch nicht so, dass man alle paar Jahre einen solchen Roman schreibt. Das passiert nur einmal.

Dabei sind Sie Mathematiker.

Ruge:

Ich wollte immer Autor werden. Aber mein Vater wollte, dass ich zuerst einen bürgerlichen Beruf ergreife. Das war ja auch nicht ganz falsch. Wenn man mit 19 Jahren schreiben will, lautet die Frage natürlich: Worüber? Man schreibt Erlebtes auf. Man lebt nicht, um etwas zu schreiben. (Einen Moment, ich muss die Katze rauslassen.)

War es Ihr Ziel, berühmt zu werden?

Ruge:

Nur insofern, weil ein Autor bei einer normalen Auflagenstärke von 3000 Exemplaren um die 6000 Euro verdient. Davon kann man nicht lange leben. Aber berühmt zu sein, um erkannt zu werden, das brauche ich nicht. Und das passiert mir Gott sei Dank auch nicht. Das Schönste ist, normal weiterzuleben. Das wird oft unterschätzt: das ganz normale Leben. Den Wert erkennt man erst, wenn man älter ist.

Sie mussten auch etwas älter werden, um das Buch zu schreiben. Auslöser war eine Diagnose über eine schwere Krankheit und der Gedanke: Mach es jetzt, sonst schaffst du es nicht mehr.

Ruge:

Wobei sich die Diagnose als falsch herausstellte. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum es gedauert hat: Mein Vater war davor. Was er in Russland erlebt hat, war für mich der interessanteste Teil der Familiengeschichte. Aber darüber zu schreiben, verbot sich mir. Das war die Sache meines Vaters. Und der hat das Trauma des Gulag erst spät verarbeitet.

Er starb 2006. Musste er erst sterben, bevor Sie schreiben konnten?

Ruge:

Auf jeden Fall musste er erst einmal sein eigenes Buch abliefern. Das hat er getan. 2003. Und nachträglich stelle fest, dass es tatsächlich einfacher war, über gestorbene Familienmitglieder zu schreiben, sie neu zu erfinden.

Was haben Sie verändert?

Ruge:

Die Art, wie mein Vater verhaftet wurde, war in Wirklichkeit anders. Ich habe auch Lebensdaten verändert. Und er ist ein anderer Typ. Er fühlt sich anders an. Ich habe ihn stark vereinfacht und als Überlebenden geschildert. Nur so konnte ich auch über die Sexualität von Kurt und Irina schreiben. Dazu brauchte ich Distanz.

Sie haben ein Jahr vor der Wende "rübergemacht". Wenn Sie dieses eine Jahr noch geblieben wären, hätte das in Ihrem Leben Wesentliches verändert?

Ruge:

Wahrscheinlich hätte ich an den Runden Tischen teilgenommen und versucht, etwas zu bewegen. Aber das ist Spekulation. Ich hatte schon lange eine große innere Distanz zur DDR. Und in dem Moment, wo die Wende kam, war mir klar, dass nun nicht der demokratische Sozialismus ausbrechen würde. Es gab keine konzeptiven Ideologen, keine Neuansätze. Auf der anderen Seite gab es diese unglaublich starke und vereinnahmende Bundesrepublik.

Hätten Sie das Buch auch dann geschrieben, wenn Sie noch dieses eine Jahr in der DDR geblieben wären?

Ruge:

Ja, und vermutlich auch genau so. Dass ich die Wende ausspare, obwohl es eigentlich um die Wende geht, hat nichts damit zu tun, dass ich damals nicht mehr in der DDR war. Es gibt einfach schon so viele Geschichten darüber. Ich wollte das nicht alles wiederkäuen. Der Trick ist, dass vieles ausgespart bleibt: der Mauerbau, die Wende. Das setze ich voraus und schildere die Ereignisse von innen.

Ist es eine Autobiografie oder eine Abrechnung mit der DDR?

Ruge:

Ich verteidige das System nicht, aber es ist auch keine Abrechnung. Und es ist auch keine Autobiografie. Dann müsste es ein Buch über mich sein. Ich erzähle kleine Geschichten einer Familie - über 50 Jahre und vier Generationen hinweg. Einer Familie, die meiner nicht unähnlich ist. Und es kommt auch ein Figur vor, für die ich mich selbst bestohlen habe. Aber auch die ist ganz klar eine literarische Figur.

Wenn man über den Vater und über sich selbst als Vater schreibt, überdenkt man dann seine Vaterrolle?

Ruge:

Im Roman steht das Thema in einem anderen Kontext. Hier geht es um einen jungen Mann, der nach der Scheidung der Eltern aus der Familie ausschert. Und dann kommt die Wende, und er gehört plötzlich zur Hoyerswerda-Generation.

Sie haben nicht einen, sondern drei Söhne und eine Tochter. Ist das Buch ein Beitrag, sie zu aufrechten Demokraten zu machen? Was wollen Sie weitergeben?

Ruge:

Die Sache selbst. Es klingt immer so schulmäßig, dass Geschichtsbewusstsein wichtig ist. Aber es ist so. Wir sind das, was wir sind, durch unsere Geschichte. Und das Weitererzählen von Erfahrungen ist elementar. Leider ist dieser Prozess gestört.

Wodurch?

Ruge:

Junge Menschen lesen weniger. Dafür beherrschen sie perfekt die modernen technischen Kommunikationsmöglichkeiten. Ältere können damit oft nicht so gut umgehen. So entsteht bei den Jungen der Eindruck, die Älteren hätten ihnen nichts mehr zu sagen. Und diese fühlen sich alt und außerhalb der Gesellschaft. Das ist eine traurige Entwicklung, die niemandem guttut, auch nicht den jungen Menschen, die nicht mehr mitkriegen, woher sie kommen, was ihre Geschichte ist.

Ihr Buch beschreibt die Geschichte des Sozialismus, der erbärmlich zugrunde geht. Erzählt das Buch auch, dass es so war und auch nicht anders sein konnte?

Ruge:

Nein. Das erzählt das Buch nicht.

Haben Sie denn trotz ihrer Erfahrungen Hoffnung auf eine gerechtere Welt?

Ruge:

Der real existierende Sozialismus war vom Tag der Oktoberrevolution eine Fehlkonstruktion. Ob man weiter über sozialistische Utopien nachdenken soll, weiß ist nicht. Aber bevor man etwas verändert, muss man sich bewusst machen, dass die Geschichte des Sozialismus und des Kommunismus die blutigste des 20. Jahrhunderts ist.

Heißt das: Sie resignieren?

Ruge:

Nein. Aber ich bin auch nicht besonders optimistisch. Man muss den Tatsachen ins Gesicht sehen. Das ist in der DDR nicht passiert. Das passiert in Russland bis heute nicht. Und bei uns geht es immer nur um Mauer und Stacheldraht. Aber 139 Mauertote stehen Millionen Toten gegenüber, die in den sowjetischen Lagern gestorben sind. Man muss weiter zurückschauen als es etwa die Linke tut.

Sind Sie parteipolitisch gebunden?

Ruge:

Nein. Ich bin auch dafür, dass politische Parteien abgeschafft werden.

Ach!

Ruge:

Ja (lacht). Ganz im Ernst. Ich glaube, der Verfall der Demokratie hängt damit zusammen, dass die Politik sich vollständig in der Hand dieser kastenartigen Parteien befindet.

Was wäre die Alternative?

Ruge:

Das ist nicht mit zwei Worten zu sagen. Aber selbst ein zufällig zusammengewürfeltes Parlament wie in der griechischen Polis wäre besser, als der Fraktionszwang im Bundestag.

Dann sind Sie auch für das NPD-Verbot.

Ruge:

Ich fühl mich da nicht kompetent. Wenn damit das rechtsradikale Gedankengut verschwinden würde, sofort. Wichtig ist aber auch, jungen Leuten, die dort eine politische Heimat gefunden haben, eine Perspektive zu geben und ihnen Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Es gibt inzwischen mehr Opfer durch Rechtsradikalismus als Mauertote. Darüber ist sich die Öffentlichkeit nicht bewusst.

Was ist die Botschaft des Buches?

Ruge:

Es gibt keine. Ich wollte etwas beschreiben, es bewahren. Die Menschen sind dankbar dafür. In Potsdam sagte eine Frau: Sie haben mir ein Stück meines Lebens zurückgegeben.

Die Lesung von Eugen Ruge im Ahrensburger Marstall (Lübecker Straße) beginnt heute um 20 Uhr. Es gibt noch wenige Restkarten. Eintritt: zehn Euro.