Das Leben nach dem Atomgau in Fukushima. Japanische Austausch-Schüler berichten über die aktuelle Situation in ihrem Land
Glinde. Plötzlich wird die sonst verlegen lächelnde, 16-jährige Atsumi Sakaguchi ernst. Es geht um den Atomunfall in Fukushima. "Das Leben hat sich wieder normalisiert." Sie ist eine von 20 japanischen Austausch-Schülern aus der Stadt Chigasaki, die für eine Woche das Gymnasium Glinde besuchen.
Der Unglücksort ist zwar etwa 350 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Trotzdem machen sich die jungen Schüler viele Gedanken über die Atomkatastrophe und ihre Folgen. "Ich bin enttäuscht von der japanischen Atompolitik. Deutschland ist so weit weg von uns und hat dennoch beschlossen, von der Atomenergie abzurücken. Das finde ich sehr gut", sagt die 18-jährige Yumi Ota.
Ihre Schulkameraden stimmen ihr zu. Sie alle hätten sehr viel Angst gehabt, als das Atomkraftwerk im März dieses Jahres havarierte. Der Austausch-Schüler Ryohei Noguchi empört sich über die Reaktion der Regierung. Er sagt: "Sie hatten zunächst versucht, den Vorfall zu verharmlosen. Ich glaube, sie taten das, weil sie selbst das Ausmaß der Katastrophe einfach nicht begriffen."
Aber im nächsten Moment lachen sie schon wieder. Sie lachen viel und sind dabei immer ein wenig schüchtern. Man merkt ihnen an, dass das ernste Thema sie anstrengt. Sie wollen das ihnen so fremde Land mit Neugier und Freude entdecken, die Realität zu Hause für eine Woche hinter sich lassen. Denn auch jetzt - wo das Leben normal weitergeht - ist die Furcht vor den Folgen des Unfalls da. Denn wer garantiert ihnen, dass sie trotz der großen Entfernung nicht auch betroffen sind?
"Ich habe einen Freund aus Fukushima, der immer noch dort lebt. Er hat große Angst vor der Strahlung", berichtet die 17-jährige Rina Matsuzaki mit betretener Mine. Viele Menschen könnten nicht einfach weggehen. Sie hätten ihr Leben und ihre Verpflichtungen dort. Diejenigen, die doch vor ihrem Zuhause flüchten, müssen noch mal von vorn anfangen. Atsumi Sakaguchi: "Die Leute aus Fukushima sind verzweifelt und zugleich verärgert über die Politiker, die zu wenig tun."
Sie weiß von einer Schule in Yokohama nahe ihrer Heimatstadt, die viele Schüler aus Fukushima aufgenommen hat. "Sie möchten nicht mehr nach Hause." Doch wahr ist auch, dass nicht jeder bereit ist, seine Heimat aufzugeben. Einige nehmen ihre Situation wohl auch nicht ernst genug, weil sie einfach nicht wissen, wie gravierend sie tatsächlich ist.
Eine Anti-Atom-Bewegung, wie wir sie hierzulande kennen, gibt es dort trotz der Ereignisse bisher nicht. Ryohei Noguchi findet das schade. "Zu Beginn haben vor allem viele Künstler und Intellektuelle protestiert. Doch mittlerweile ist es ganz leise um sie geworden", bedauert der 17-Jährige. Es mögen auch kulturelle Unterschiede eine entscheidende Rolle dabei spielen. Den Japanern sagt man immer eine gewisse Zurückhaltung nach. Besonders, wenn es um Kritik an der politischen Klasse geht.
Die Austausch-Schüler aus Chigasaki hingegen sind nicht sparsam mit Kritik. Auch wenn ihr zaghaft kindliches Verhalten es nicht vermuten lässt, so haben sie doch ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Gesellschaft ihres Herkunftslandes. Hinter ihrem Lachen verbirgt sich vielmehr, als nur der Ausdruck verlegener Freude. Es ist auch - so scheint es - Unsicherheit gepaart mit einer Ernsthaftigkeit, die sich auf den ersten Blick kaum erahnen lässt.
Der Englischlehrer Takafumi Kawaguchi begleitet seine Schüler auf ihrer Reise. Er möchte, wie er selbst in tadellosem Deutsch sagt, seine Schüler die deutsche Kultur erfahren lassen. Kawaguchi: "Sie sollen auch lernen, wie das Schulsystem hier funktioniert. Es unterscheidet sich nämlich stark vom japanischen." Zum Beispiel drückten Deutsche länger die Schulbank als Japaner, erklärt der 59-Jährige Lehrer.
Das Japan-Austausch-Projekt wird vom Asienforum des Gymnasiums Glinde organisiert und ist gerade erst angelaufen. Bisher gab es nur eine Partnerschaft mit einer chinesischen Schule. Im vergangenen Jahr waren die deutschen Schüler dann zum ersten Mal zum Austausch in Chigasaki. Jetzt beherbergen sie eine Woche lang ihre japanischen Kameraden, die am Sonntag wieder abreisen.
Und was finden die Japaner am merkwürdigsten an den Deutschen? "In Deutschland isst man abends kalt. Das finde ich komisch", sagt eine Schülerin. Ryohei Noguchi staunt indes über die Geschwindigkeit auf deutschen Straßen. "Die fahren so schnell." Außerdem seien Deutsche offensiver als Japaner. "Sie fangen direkt ein Gespräch an."
Am 20. September wird der in Japan bekannte Musiker Yoshiyuki Kimura ein kostenloses Konzert am Gymnasium Glinde geben. Kimura beherrscht als einer von Wenigen die zwei traditionell japanischen Instrumente Taiko und Tsugaru-Shamisen. Beginn ist um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei, die Schule freut sich über Spenden.