Die deutschen Neumayer-Stationen am Südpol hat ein Barsbütteler Ingenieur entwickelt. Für Dietrich Enss begann alles mit einem rätselhaften Anruf.
Barsbüttel. Wollte Dietrich Enss noch einmal sehen, was er erschaffen hat, müsste er auf eine lange Reise gehen. Beginnen würde sie mit einer geradezu lächerlich kurzen Etappe. Von Barsbüttel ginge es zum Hamburger Flughafen. Ein Flugzeug würde ihn nach Kapstadt bringen. Dort müsste Enss ein 10 000 Euro teures Ticket kaufen und auf gutes Wetter warten. Ist es da, würde er in eine Iljuschin 76 klettern, eine schwere Transportmaschine, die nach einem Flug von sechs Stunden in Nowolasarewskaja landet. Dort hieße es wieder warten. Übernachten müsste er in einem beheizten Zelt neben dem Flugfeld - bis das Wetter bereit ist für die letzte Etappe, die nach weiteren drei Stunden auf dem Schelfeis endet. Direkt vor der Antarktis-Forschungsstation Neumayer III.
"Im günstigsten Fall braucht man für die Reise drei Tage, meistens aber fünf bis acht", sagt Bauingenieur Enss. "Ich werde sie nicht mehr machen." Dietrich Enss ist gerade 70 geworden und geht in den Ruhestand.
Neumayer III ist ein Jahr alt. Im Februar 2009 wurde die deutsche Forschungsstation eingeweiht. Sie ist etwas ganz Neues, etwas Revolutionäres: ein mit dem Schneefall wachsendes Haus, in dessen Konstruktion Enss sein Wissen aus 30 Jahren des Bauens in der Antarktis hat einfließen lassen. "Tanz auf dem Eis" betitelte das Nachrichtenmagazin "Spiegel" etwas lyrisch einen Bericht über den "Hightech-Bau". Aber kann ein 16-Füßler tanzen? Neumayer III steht auf 16 Stelzen, die angehoben und auf ein erhöhtes Niveau gesetzt werden können. Immer ein Bein nach dem anderen und ganz langsam - wie eine alte Dame beim Treppensteigen (siehe Infokasten).
"Alle, die die Station bis jetzt gesehen haben, waren begeistert", sagt Enss. Begeistert von der Technik, die verhindert, dass das Haus einschneit. Den Vorgänger-Stationen Neumayer I und II war das am Ende zum Verhängnis geworden. "Die erste Station liegt mittlerweile bestimmt 20 Meter unter der Oberfläche", sagt Enss. 1981 hat der Barsbütteler sie gebaut, zwölf Jahr später musste sie durch Neumayer II ersetzt werden. Auch die wird mittlerweile vom Schnee von gestern bedeckt - und dem von allen Tagen davor.
Denn obwohl die Südpolar-Region eigentlich eine niederschlagsarme Eiswüste ist, schneit es an der Küste kräftig. Gerade dort forschen die Deutschen seit 1981. Die Metallröhren, die die äußere Hülle der Stationen bilden, versinken deshalb unter einer stetig wachsenden Schneedecke. Treppentürme und Entlüftungsschächte müssen regelmäßig erhöht werden, um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu verlieren. Die Stationsmitarbeiter leben letztlich in einem fensterlosen Kellerraum, der von der wachsenden Schneelast verformt wird, die ihn nach zehn bis 15 Jahren unbrauchbar macht. Aber Neumayer III ist anders. Jetzt haben die Forscher freien Blick aufs Eis.
Den hatte Enss bis vor wenigen Tagen auch in seinem winterlich eingehüllten Haus in Barsbüttel. Dort hat er über den Konstruktionsplänen gebrütet, hat die Technik ersonnen, die den neun Menschen in der Station das Leben erleichtern soll. Enss ist ein sehr detailliert berichtender, schlanker, hochgewachsener Mann, dessen Hemd perfekt gebügelt ist. Man glaubt ihm sofort, dass er den Gesundheitscheck, den jeder über sich ergehen lassen muss, der zur Forschungsstation fliegt, problemlos bestanden hat. Im Februar ist er zuletzt dort gewesen.
Angefangen hat alles 1979. Enss, der gebürtige Berliner, arbeitete damals für die Firma Christiani & Nielsen in Hamburg. Ein Jahr zuvor war er Geschäftsführer des alteingesessenen Unternehmens geworden, das unter anderem beim Bau des neuen Elbtunnels mitgewirkt hatte. Enss' erste richtig große Aufgabe. 33 war er damals. "Das war nervenaufreibender als die Arbeit in der Antarktis", sagt er.
1979 bekam er eine rätselhafte Anfrage. "Können Sie auch in Eis und Schnee bauen?" Die klare Antwort: "Ja." Ganz richtig war sie nicht. Enss wusste damals wenig über die Antarktis und nichts über den Baustoff Schnee. Der passionierte Segler hatte zwar schon zwei größere Auszeiten hinter sich, in denen er sich in der Welt umgesehen hatte. Nach der Elbtunnel-Geschichte war er 14 Monate nur gesegelt, viele davon allein. Indien, China, Japan, USA - kannte er alles. Die Antarktis kannte er nicht.
Das sollte sich bald ändern. Denn die Anfrage war ernst gemeint. Sie kam vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremen, das im Auftrag des Forschungsministeriums eine deutsche Antarktisstation errichten wollte - dem Beispiel vieler Nationen folgend, die damals im siebten Kontinent, der größer als Europa ist und niemandem gehört, Präsenz zeigen wollten. Enss sprach mit Forschern, wusste, dass das AWI nur 45 Millionen Mark zur Verfügung hatte, machte ein passgenaues Angebot - und bekam den Auftrag.
Mit der abenteuerlichen Reise in einem selbst gecharterten Schiff an die Schelfeis-Kante begann Enss' Karriere als Bauingenieur am Pol. "Alle haben gesagt, ihr schafft das nicht, die Station in einer Saison aufzubauen", sagt er. Die Saison - das ist der antarktische Sommer, der etwa von Ende Oktober bis Ende Februar reicht, der rund um die Uhr Tageslicht bietet und moderate Temperaturen. Enss schaffte es in knapp zwei Monaten: am 15. Januar 1981 wurde begonnen, am 12. März war man fertig.
Wenn da an Bord der "Gotland" etwas gefehlt hätte, und sei es nur ein kleines, aber unverzichtbares Schräubchen, wäre das Unternehmen gescheitert. Denn damals gab es noch keine Flugverbindung. "Die Logistik ist unglaublich wichtig", sagt Enss, auf dessen Schreibtisch nur ein Laptop steht - sonst nichts.
Nach dieser erfolgreichen Antarktis-Mission geht es Schlag auf Schlag. Enss baut eine zweite deutsche Station, die nur im arktischen Sommer besetzt ist, er plant die italienische Terra Nova Bay Station, er hilft den Indern, er baut die englische Forschungsstation Halley V, er arbeitet für Greenpeace, die von 1987 bis 1991 in der Antarktis präsent sind. Dass ausgerechnet die Umweltschützer auf die Außenhülle ihrer Station verzichten und so viel mehr Treibstoff zum Beheizen brauchen, ist eine von vielen Geschichten, die Enss über die Antarktis erzählen kann.
Auf Kreuzfahrten gibt er sie später weiter, erzählt er den Gästen als eingeladener Fachmann, was sie über den Südpol wissen sollten. Den zunehmenden Tourismus sieht er heute kritisch. Vom argentinischen Ushuaia aus drängen immer mehr Kreuzfahrer in die Antarktis. "Die Touristen suchen da die unberührte Natur", sagt Enss. "In Wirklichkeit ist es so, dass sich die Kapitäne mittlerweile absprechen müssen, wer wann in die eine Bucht fährt, wo man ganz gut an Land gehen kann. Damit die Illusion der Einsamkeit aufrechterhalten wird. Die Schiffe sind nicht so schlimm, aber wenn die Leute in die Pinguin-Kolonien reinmarschieren, dann wird es problematisch."
Vielleicht, sagt er, fährt er noch einmal mit auf einem dieser Schiffe - und erklärt den Leuten seine Antarktis. "Das Faszinierendste ist der weite Blick. Die Luft ist bei gutem Wetter so klar, dass man einen ganz falschen Eindruck von Distanzen bekommt. Da können Sie jeden fragen, der zum ersten Mal in der Antarktis ist, wie weit zum Beispiel ein Eisberg entfernt ist. Er ist immer viel weiter weg, als die Leute schätzen."
Wir sind wieder in Barsbüttel. Draußen versperren Häuser die Sicht. Am Computer suchen wir Fotos aus, die Dietrich Enss in der Antarktis gemacht hat. Er brennt sie dem Berichterstatter auf eine CD. Sind sie auch alle drauf? "Sicher", sagt der Journalist. "Sicher ist sicher", sagt der Ingenieur. Enss überprüft es schnell am Computer. Damit die Mission "Zeitungsartikel" auch gelingt.