Ahrensburg. Stundenlang wartete Aryaj Betar (20) auf ein Lebenszeichen seiner Angehörigen in der Südtürkei. Wie diese die Katastrophe erleben.

Für Aryaj Betar vergehen bange Stunden des Wartens, ehe das Telefon klingelt und der erlösende Anruf kommt. „Uns geht es gut“, meldet sich sein Schwager am anderen Ende der Leitung. Der 20-Jährige wohnt mit seinen Eltern in Ahrensburg. Seine Schwester Yara lebt mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern in der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Sanliurfa im Süden der Türkei, etwa 150 Kilometer östlich des Epizentrums des verheerenden Erdbebens, welches am Montag das türkisch-syrische Grenzgebiet erschütterte und bis Mittwochabend mehr als 11.000 Menschen das Leben kostete.

Seit sich die Nachricht von der Katastrophe verbreitete, hatte die Familie voller Sorge auf ein Lebenszeichen ihrer Liebsten gehofft. Den Beginn des Infernos bekommen die Betars am Telefon hautnah mit. „Meine Mutter hat gerade mit Yara telefoniert, als sie plötzlich geschrien hat und die Verbindung abbrach“, erzählt Aryaj. Wenig später berichten die ersten Medien über die Katastrophe.

Ahrensburger bangt nach Erdbeben in der Türkei um seine Schwester

„Wir haben natürlich mit dem Schlimmsten gerechnet, wir wussten nicht, ob meine Schwester noch am Leben ist“, beschreibt der 20-Jährige die Minuten und Stunden danach. Yara Betar hat Glück. Die 25-Jährige kann sich und ihre Familie ins Freie retten. „Als die Erde gebebt hat, hat sie sich nur schnell angezogen, die Kinder genommen und ist raus auf die Straße“, sagt Aryaj Betar. Kurz darauf seien die ersten Gebäude in der Nachbarschaft zusammengestürzt. „Als das Erdbeben angefangen hat, war es dort gegen 4 Uhr nachts, viele Menschen sind im Schlaf gestorben“, sagt der Auszubildende aus Ahrensburg.

Inzwischen hat Aryaj Betar regelmäßig telefonisch Kontakt zu seiner Schwester. Das Mehrfamilienhaus, in dem die Wohnung der Familie liegt, habe die Erdstöße bislang zwar überstanden, doch in der Fassade klaffe senkrecht ein zentimeterbreiter Riss. „Es ist nicht klar, ob es einsturzgefährdet ist“, sagt Betar und zeigt ein Video auf seinem Handy, welches ihm seine Schwester gesendet hat. Auf einer anderen Aufnahme sind Menschen zu sehen, die schreiend auf der Straße umherlaufen, während die Erde bebt und Putz und Steine von den umliegenden Gebäuden herabstürzen.

Die südtürkische Millionenstadt Sanliurfa am 7. Februar: Helfer suchen in den Trümmern der eingestürzten Gebäude nach Überlebenden.
Die südtürkische Millionenstadt Sanliurfa am 7. Februar: Helfer suchen in den Trümmern der eingestürzten Gebäude nach Überlebenden. © AFP | Remi Banet

Menschen sterben beim Versuch, ihr Hab und Gut zu retten

Die Polizei vor Ort habe den Bewohnern verboten, in ihre Häuser zurückzukehren. „Viele halten sich aber nicht daran, wollen ihr Geld oder etwas zu Essen holen“, so der 20-Jährige. Zahlreiche Menschen seien beim Versuch, ihr Hab und Gut zu retten, infolge der regelmäßigen Nachbeben unter Trümmern begraben worden. „Meine Schwester sagt, dass die Erde immer noch alle halbe Stunde bebt, niemand weiß, wie lang noch“, erzählt der Ahrensburger. Niemand könne voraussagen, wann die Menschen wieder in ihre Wohnungen können.

Der weiße Mehrsitzer der Familie ist seit mittlerweile drei Tagen ihr Zuhause. Yara Betar, ihr Mann, dessen Schwester und die drei Kinder teilen sich den Platz in dem Wagen, der im Hinterhof des Wohnblocks geparkt ist. „Das ist ihr großes Glück, dass sie das Auto haben“, sagt Aryaj Betar und zeigt die Bilder des Fahrzeugs inmitten beschädigter Wohngebäude. Helfer hätten inzwischen zwar Zelte aufgebaut, doch die reichten bei Weitem nicht aus, um die vielen Menschen unterzubringen.

2015 floh Aryaj Betar mit seinen Eltern aus Syrien nach Deutschland

„Meine Schwester und ihre Familie haben nichts, außer die Kleidung, die sie tragen und einige Decken, die sie noch im Auto hatten“, erzählt der 20-Jährige. Im Geschäft eines Verwandten könnten sie zwischen den Erdstößen Lebensmittel holen. „Aber da bleiben können sie nicht, das Gebäude könnte einstürzen“, so Betar. Zu allem Überfluss erlebt die Südtürkei gerade einen Wintereinbruch mit eisigen Temperaturen um den Gefrierpunkt. „Erst vor wenigen Tagen hat es geschneit“, sagt der Ahrensburger. Das Schlimmste für seine Schwester sei es aber, den Kindern zu erklären, dass sie nicht mehr wieder nach Hause könnten.

„Die Leute leben in der Angst, nicht zu wissen, was am nächsten Tag ist“, so Aryaj Betar. „Sie planen nur für die nächsten Stunden, alles andere ist weit weg.“ Der 20-Jährige weiß, wovon er spricht. 2015 ist er selbst mit seinen Eltern aus Syrien nach Deutschland geflohen. An seine Kindheit in dem Bürgerkriegsland fühlt sich Aryaj Betar nun erinnert. „Man verabschiedet sich vor dem Schlafengehen, weil man nicht weiß, ob man wieder aufwacht“, beschreibt er das Gefühl.

Yara Betar harrt mit ihrem Mann und den drei Kindern seit Tagen in diesem Auto aus. Das Wohnhaus der Familie ist einsturzgefährdet.
Yara Betar harrt mit ihrem Mann und den drei Kindern seit Tagen in diesem Auto aus. Das Wohnhaus der Familie ist einsturzgefährdet. © Unbekannt | Privat

Zwei Freunde des Ahrensburgers starben in den Trümmern

Auch in Syrien hat der Ahrensburger noch Freunde und Verwandte. Zwei Jugendfreunde, die in der nordsyrischen Stadt Idlib lebten, sind bei dem Erdbeben gestorben. „Die beiden waren Brüder, einer hat erst vor sechs Monaten geheiratet“, sagt Aryaj Betar und kämpft mit den Tränen. Überhaupt sei die Lage in Syrien besonders schlimm. „Viele Menschen liegen unter den Trümmern und könnten noch gerettet werden“, sagt Betar. Doch in dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Land fehle es an schwerem Gerät, um die Verschütteten zu befreien. Und angesichts der Kälte werde die Zeit für die Menschen knapp.

Wie es für Yara und ihre Familie nun weitergeht, weiß keiner. „In ihrer Wohnung werden sie wahrscheinlich nicht wieder leben können, das Haus muss wohl abgerissen werden“, sagt Aryaj Betar. Noch spekuliere seine Schwester darauf, nach Ende der Nachbeben vielleicht zumindest das Wichtigste holen zu können. „Derzeit kann keiner sagen, wann die Beben aufhören“, so der 20-Jährige. „Mal heißt es, noch eine Woche, dann noch ein Monat.“

Die Familie hofft, Yara, ihren Mann und die Kinder so bald wie möglich nach Deutschland holen zu können. Derzeit sei die Lage aber so unübersichtlich, dass unklar sei, ob und wann das gelinge. Vorerst bleibt den Betars nichts anderes übrig, als abzuwarten und am Telefon aufbauende Worte zu finden. „Man fühlt sich machtlos“, sagt Aryaj Betar.