Weihnachtslieder werden offenbar zum Auslaufmodell. Selbst Chorsänger werden unter dem heimischen Christbaum zu Gesangs-Muffeln.
Harburg/Jork. An jeder Ecke müssen die Menschen eine weihnachtsmusikalische Dauerbeschallung aus der Konserve ertragen. "O du fröhliche", "Last Christmas" und "Stille Nacht" - so geht es rauf und runter. Doch wie steht es mit dem Gesang unter dem Weihnachtsbaum? Wer trällert heute noch selbst mit der Familie, bevor es ans Zerpflücken des Geschenkpapiers geht?
Das Ergebnis unserer nicht repräsentativen Umfrage bei den Bürgern und Sängern der Region: Vor allem der jüngeren Generation liegt es fern, ihr Stimmvolumen im Kreise der Familie auszutesten - selbst für sonst so begeisterte Sänger, die Mitglied in der Harburger Kantorei sind.
Ein Besuch bei der Chorprobe der Harburger Kantorei im Gemeindesaal der St.-Trinitatis-Gemeinde (St. Johannis) in Harburg: Weihnachtslieder zählen zum festen Repertoire des Chores. Schließlich wird die Kantorei in der Adventszeit besonders häufig gebucht und tritt in zahlreichen Kirchen und Seniorenheimen auf. Und so holen die rund 60 Frauen und Männer an diesem Probenabend alles aus sich heraus. Sie wiegen sich in den Gesang hinein, wippen mit den Füßen, während der Dirigent Werner Lamm am Klavier Kreise in die Luft malt.
Weihnachtliche Kirchenlieder wie "Machet die Tore weit" oder "Maria durch ein Dornwald ging" dringen in jede Ritze des Gemeindesaals. In den eigenen vier Wänden verhalten sich viele Chormitglieder aber ganz anders. Obwohl Singen sie glücklich macht, liegt es der Halbengländerin Grace Krause, 27, aus Harburg fern, zu Hause Weihnachtslieder zu trällern. "Ich bin kein großer Weihnachtsmensch", sagt die Kriminologie-Studentin.
Texte sitzen nicht mehr
Heute ist das uncool
Ein deutliches Nein
Ihre früheste musikalische Erinnerung an das frohe Fest verbindet sie mit dem Weihnachtsoratorium von Bach. Aber wenn sie heute selbst zu Weihnachten mit Begeisterung singt, dann nur das Anti-Weihnachtslied "Fairy Tale of New York" von The Pogues. Auch Melanie Brockmeyer, 31, aus Harburg schlägt eher härtere Töne an. Zwar singt sie zuweilen zusammen mit ihren Kindern (zwei und sechs Jahre alt) "In der Weihnachtsbäckerei" von Rolf Zuckowski. Aber der Nachwuchs mag eigentlich viel lieber den deftigen Songtext "Engel" von Rammstein. Auch die Controllerin erklärt es damit, dass sie "keine großen Weihnachtsfans" seien.
Keine Zeit zum Singen
Singen ist doch nett
Selbst frühe Chorarbeit schützt nicht vor Weihnachtsgesangs-Muffelei. Niklas Schreiber, 29, aus Hamburg-Neustadt ist schon mit fünf Jahren dem "kleinen Hamburger Sängerhaufen" beigetreten. Der Diplom-Biochemiker aus Hamburg-Neustadt spielt Gitarre und Klavier, macht ständig Musik mit vielen Freunden und singt zusammen mit seinem Vater Wolfgang, 62, aus Hohenfelde in der Harburger Kantorei. "Aber zu Weihnachten singen wir nicht", sagt Niklas Schreiber. Er ist im Übrigen jedes Mal froh, wenn er "Last Christmas" erst im Dezember zum ersten Mal hört. Und sein Vater kommentiert die Frage nach seinen Lieblingsweihnachtsklassikern nur trocken mit den Worten: "Oje, du fröhliche".
Sogar der Vorsitzende der Harburger Kantorei, Stefan Wendt-Reese, 39, aus Neugraben muss sich im eigenen Reich zusammenreißen. Seine Kinder (zwischen 15 und 21 Jahren) finden seinen Gesang einfach nur peinlich. "Sie können weder mit der Art der Musik noch mit dem Singen an sich etwas anfangen", sagt er.
Ganz andere Gesanggewohnheiten gibt es beim Altländer Shanty Chor. Ihr Terminkalender ist ähnlich prall gefüllt wie der der Harburger Kantorei. Sie singen in Kirchen, Altenheimen, auf Firmen- und Hochzeitsfeiern.
Ein Besuch beim Shanty Chor auf einer Busfahrt Richtung Hamburg: Heute Abend werden die Männer auf einer Firmenweihnachtsfeier im Elbhof singen. Jeder der rund 40 Herren trägt ein weißes Hemd mit rotem Halstuch, schwarzer Weste und Hose. Es läuft ein Video des jüngsten Auftritts in der Langenhorner Kirche. Zum Weihnachtsrepertoire des Altländer Shanty Chors zählen hauptsächlich Lieder mit maritimem Charakter. Weihnachten spielt sich da auf See oder achtern Diek ab.
Die Chormitglieder, allesamt höheren Alters, legen noch großen Wert auf die gute alte Tradition während der Weihnachtstage. "Ohne Singen geht bei uns gar nichts", sagt Wolfgang Vollmer, 74, aus Buxtehude. Auch wenn der eine oder andere in der Familie schiefe Töne anschlägt, ist das gemeinsame Singen mit den drei erwachsenen Kindern und drei Enkelkindern (acht, 14 und 21 Jahre alt) ein Muss. "Sonst gibt's keine Geschenke. Und wer nicht singen will, muss ein Gedicht aufsagen."
Diese Regel gilt ebenso im Hause des Chorvorsitzenden. Textabweichungen sind bei Uwe Richters, 65, aus Jork allerdings mehr als erlaubt. Wenn die Enkelkinder sein "O Tannenbaum" mit "die Oma hängt überm Gartenzaun" ergänzen, trägt es schließlich zur allgemeinen Erheiterung bei. Bei seinem Stellvertreter Günter Gröbel, 67, aus Jork ist es die Frau, die zum Singen verdonnert wird.
Doch nicht alle Männer können den Gesang in ihren Familien so leicht durchsetzen. "Singen? Das war früher mal", sagt Gerd Szaguhn. Der 82-Jährige, ältestes Mitglied des Männerchors, musste vor der CD kapitulieren. "Heute wird eine CD aufgelegt, und dann ist der Gesang da", sagt er.
Für Chorleiter Michael Bunge, 41, aus Ahlerstedt, zeichnet sich heute schon ab, dass das gemeinsame Singen mit dem Sohn bald der Vergangenheit angehören wird. Im vergangenen Jahr hat er Heiligabend noch mit seinem Sohn zusammen den Titelsong aus dem Film "Polar Express" im Duett gesungen. Jetzt ziehen ACDC-Klänge ins Haus. Die Pubertät ist meistens der Anfang vom Ende. Zuvor brachte es noch Spaß, mit den Eltern kitschige Weihnachtslieder zu singen und dazu Flöte oder Gitarre zu spielen. Doch dann mit Einzug von Schminke und Stimmbruch ist das alles nur noch peinlich. Offenbar erproben nur noch wenige Familien ihr Gesangsvermögen zu Hause während der Weihnachtstage.
Heißt das, dass das Singen an Bedeutung verliert? "Nein", sagt Werner Lamm, Chorleiter der Harburger Kantorei. Im Gegenteil. "Das sieht man schon an Sendungen wie 'Deutschland sucht den Superstar'. Auch wenn es mir nicht gefällt, immerhin singen die Leute ja. Gesang verändert derzeit nur sein Erscheinungsbild."