Keitum. Für Insulaner wie Urlauber ist die Kirche St. Severin ein wichtiger Anlaufpunkt. Wer dort war, weiß, warum.

Es braucht nicht viele Worte, ehe klar wird, weshalb Besucher aus ganz Deutschland bei Susanne Zingel in der Kirche einkehren. Ob Taufe, Hochzeit oder Seelsorgegespräch: Die Pastorin strahlt mit ihrem Lachen und ihrer warmen Stimme solch eine Freundlichkeit aus, dass Gesprächspartner gar nicht anders können, als für die gebürtige Lübeckerin tiefe Sympathie zu hegen und ihr Vertrauen zu schenken.

Kein Wunder also, dass sich neben den Gemeindemitgliedern von St. Severin in Keitum auch immer mehr Urlauberinnen und Urlauber für die Seelsorge-Sprechstunden der Pastorin anmelden. „Mit vielen stehe ich seit Jahren in Korrespondenz“, sagt Susanne Zingel, die sich an diesem Dienstagvormittag Zeit für ein ausgiebiges Gespräch mit dem Abendblatt genommen hat.

Seit 2005 ist die Pastorin auf Sylt

Zingel hat es sich auf einem Stuhl gleich neben dem goldenen Taufbecken gemütlich gemacht und schlägt die Beine übereinander. Hinter ihr kann man die kunstvollgestaltete Orgel mit rosafarbenen und mittelblauen Holzelementen erblicken. Darunter Reihen an hellgrauen Holzbänken, auf denen leuchtend rote Gesangsbücher liegen.

2005 von Hamburg nach Sylt gezogen, ist die Theologin nun seit 17 Jahren Pastorin von St. Severin. Jene Gemeinde, in der sie Bundesfinanzminister Christian Lindner in diesem Jahr getraut hat und die Paare zum Heiraten aus ganz Deutschland in den Südosten Sylts nach Keitum zieht.

Lebenskrisen, Kreuzwege und Lebensglück

„Meistens sind die Personen, die zu uns kommen entweder total glücklich, oder haben mit einer herausfordernden Lebenssituation zu kämpfen“, so Zingel. Da seien Familien, die ein Familienmitglied verloren hätten oder auch Personen, die vor wichtigen Entscheidungen stünden. Doch auch bei Touristen ist die älteste Kirche der Insel beliebt. Ganze Reisebusse voll mit Besuchern zeugen jeden Sommer davon. Doch warum genau zieht es die Menschen gerade in die Kirche von St. Severin?

„Vielleicht hat es etwas mit der Beständigkeit von St. Severin zu tun“, mutmaßt Zingel und schaut nachdenklich auf den Altar, über dem eine Holzkonstruktion mit spätgotischen Malereien hängt. Egal, wie stürmisch es draußen ist, egal wie die Gezeiten sind, „St. Severin ist ein Ort, der bleibt.“ So wie damals als sich 1354 und 1362 zwei schwere Sturmfluten über Sylt ergossen und viele Menschen das Leben kostete. Doch St. Severin ertrank nicht – im Gegensatz zu vielen anderen Kirchen.

Mehr Reflektion durch Emotionen

Ihrem Gefühl nach zu beurteilen, belastet die aktuelle Situation mit dem Ukraine-Krieg und der Inflation die Menschen sehr. Neben der finanziellen Belastung sei es vor allem die emotionale Komponente, „die, die Menschen viel mehr zum Reflektieren bringt“. Was sie damit meint: „Wir wissen nicht, was passieren wird und vor allem nicht, was in den nächsten Monaten bleiben wird." Und weil St. Severin ein Ort sei, der Beständigkeit und Sicherheit ausstrahle, sei es für viele Personen eben „schön, an einem Ort zu sein, der bleibt“.

Aus dem Reflektieren folgten aber auch konkrete Handlungen bei Ratsuchenden, wie etwa das Hinterfragen des eigenen Lebensentwurfs. Oftmals stünden Fragen wie „Was ist mein Fundament?“ oder „Was und wen will ich wirklich in meinem Leben haben?“ im Raum. Dies führe teilweise dazu, dass Personen ihren Freundeskreis neu sortierten und sich auch bewusst von Menschen aus ihrem Umfeld verabschiedeten, so Zingel.

Mehr Gottesdienst-Besucher als sonst

Doch nicht nur Zingels Seelsorge-Sprechstunden sind gut besucht. Auch ihre Gottesdienste seien in den vergangenen Wochen voller als sonst. Die Frage, ob die Pastorin etwas anders mache als sonst, verneint sie. „Es hat sich mittlerweile aber sogar eingespielt, dass während des Gottesdienstes fast alle Besucher nach vorne zum Altar kommen und sich ein Licht am Christuslicht anzünden.“ Bis vor ein paar Monaten habe das kaum jemand gemacht.

Und als hätte Zingel es inszeniert, kommt in diesem Moment mittelalter Mann mit Brille in die Kirche hinein und blickt sich suchend um. „Wo ist denn das Friedenslicht aus Bethlehem?“, fragt der Mann und hält eine rote Grabkerze hoch. „Da muss ich dich enttäuschen“, ruft Zingel dem Mann zu. „Versuchs mal im Gemeindehaus.“ Die Theologin muss selbst über den Vorfall lachen.

"Feste Feiern ist eigentlich das Beste, was man in unsicheren Zeiten machen kann."

„Mir ist es wichtig zu sagen, dass man hier in der Kirche und auch in der Gemeinde sein kann, wie man ist.“ Es sei die Bereitschaft zu ständigem Wandel, die den Menschen ein Bleiberecht auf der Erde gebe, sagt Zingel und muss dabei an den Leitsatz „Was bleiben will, muss sich ändern" denken. So wie die Welt sich um uns ständig ändere, seien auch die Menschen gezwungen, sich an die veränderten Lebensumstände wie etwa durch den Klimawandel anzupassen.

Derzeit, so Zingel, stehe alles auf dem Prüfstand, sodass den Menschen allmählich bewusster werde, dass nichts so selbstverständlich ist, wie es bisher immer schien. „Die Welt um uns herum besteht aus Fragmenten und wir streben alle immer so sehr nach der Perfektion. Doch muss es denn immer alles so perfekt sein?“

Wie man letztendlich mit seinen Sorgen umgehe, das bleibe der Pastorin zufolge natürlich jedem selbst überlassen. Deshalb bricht Zingel auch eine Lanze für all diejenigen, die nun ausgiebig Feste feiern und etwa auf eine Silvesterparty gehen. „Feste feiern ist eigentlich das Beste, was man in unsicheren Zeiten machen kann. Denn: Feste kommt von Fest. So wie fest verbunden.“