Kiel/Moskau. Nord Stream 1 nach Wartung nur noch eingeschränkt in Betrieb. Schleswig-Holsteins Umweltminister über die Folgen.

Zehn Tage zwischen Hoffen und Bangen – jetzt steht fest: Russland liefert nach Ende der Wartung der Pipeline Nord Stream 1 wieder Gas. Allerdings mit 40 Prozent der Kapazitäten lange nicht so viel wie möglich und nötig. Tobias Goldschmidt ist noch keine vier Wochen schleswig-holsteinischer Umweltminister – und schon mit einer der größten Krisen des Landes seit Jahrzehnten konfrontiert.

Der grüne Politiker spricht im großen Abendblatt-Interview über die Folgen des Gasstreits, seinen Widerstand gegen den Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Atommeiler, über Windkraft-Ausbaupläne und Klimaschutz als Verfassungsziel.

Umweltminister Goldschmidt: Gasversorgung ist nicht garantiert

Hamburger Abendblatt: Herr Goldschmidt, die Wartung von Nord Stream 1 ist beendet, Gas fließt wieder, wenn auch offensichtlich noch weiter reduziert. Hatten Sie damit gerechnet?

Tobias Goldschmidt: Richtig ist, dass heute wieder etwa so viel Erdgas über Nordstream 1 geliefert wird wie vor der Wartung. Wir verfolgen die Entwicklung aber weiter sehr aufmerksam. Denn klar ist, dass Russland kein verlässlicher Partner ist, im Gegenteil.

Wie ist Ihre Einschätzung für Herbst und Winter: Ist die Versorgung gesichert?

Goldschmidt:  Dafür gibt es keine Garantie. Die Lage ist immer noch bitterernst. Aber jede eingesparte oder durch Erneuerbare ersetzte Energiemenge bringt uns dem Ziel einen Schritt näher. Da sind wir als ganze Gesellschaft in der Pflicht. Aber auch andere Parameter haben Einfluss auf die Versorgungslage: Beispielsweise wie kalt es im Winter wird und wann die Kälte einsetzt. Sollte uns Tiefsttemperaturen erst im Januar und Februar erreichen, könnte ein gewisser Gasbedarf bereits mit den neuen LNG-Terminals kompensiert werden. Wir machen da ja gerade mächtig Tempo.

Einsparungen: Minister setzt auf Solidarität

Was folgt aus der durch Russland weiter reduzierten Gaslieferung – für die Haushalte, für die Industrie und für die öffentliche In­frastruktur mit Schulen, Behörden, Schwimmbädern oder Saunen.

Goldschmidt: Es wird einige Tage dauern, bis wir verlässlich sagen können, was die aktuellen Gaslieferungen bedeuten. Aber wie schon gesagt: Alle gesellschaftlichen Bereiche sind in der Pflicht, Einsparungen vorzunehmen. So eine Situation lässt sich am besten durchstehen, wenn alle miteinander solidarisch sind.

Mit der reduzierten Gaslieferung steigt der Druck auf die Menschen weiter, Energie zu sparen. Wenn sie es nicht freiwillig tun – kann es dann zu staatlich verordneten Einschränkungen für Haushalte kommen?

Goldschmidt: Niemand weiß, wie es in den kommenden Wochen mit der Liefersituation weitergeht. Kommt es zu einer Gasmangellage würde der Staat in die Rolle versetzt, Rationierungen vorzunehmen. Zunächst würde die Industrie davon betroffen sein. Privatkunden, Krankenhäuser oder Polizeistationen sind sogenannte geschützte Kunden und wären erst ganz am Ende der Kaskade betroffen.

Ich finde das richtig so und bin guter Dinge, dass es nicht so weit kommen muss. Das bedeutet aber nicht, dass Privatkunden nicht auch eine Verantwortung haben: Je mehr wir schon heute einsparen, desto geringer fallen die Risiken und Einschränkungen im Winter aus.

Spartipp: Umweltminister hat Sanduhr in der Dusche

Haben Sie die Wassertemperatur bei sich zu Hause schon gedrosselt?

Goldschmidt: Wir gehen verantwortungsvoll mit Energie um. Ich heize mit einer Wärmepumpe, die springt an, wenn die Sonne scheint. Ein Stück weit können wir uns dank Fotovoltaik selbst mit Energie versorgen.

Welche weiteren Konsequenzen hat Ihre Familie für sich aus der Energiekrise gezogen?

Goldschmidt: Wir haben den Konsum von Milch und Fleisch reduziert und halten uns auf der Autobahn normalerweise an die Richtgeschwindigkeit. In der Dusche steht neuerdings eine Sanduhr.

Vorsorge für Winter: Sparen an allen Ecken

Was kann jeder Bürger tun?

Goldschmidt: Der Winter wird ein harter Winter. Man kann darauf achten, dass die Temperaturen wirklich nur so hoch eingestellt sind wie nötig. Man kann beim Duschen sparen. Man kann Fotovoltaik installieren, wofür die Koalition ein Förderprogramm beschlossen hat. Außerdem kommt aus meiner Sicht der Punkt der Vorsorge noch zu kurz. Die Preise werden steigen. Deshalb sollte man in der eigenen Finanzplanung Vorsorge treffen, denn die Rechnungen mit den hohen Preisen kommen erst noch. Mir ist natürlich bewusst, dass die finanzielle Situation vieler Menschen das aber gar nicht zulässt. Hier müssen wir als Staat gezielt entlasten.

Sollten die von Putin und Gazprom beschriebenen Probleme mit der Nord-­Stream-1-Turbine zutreffen und nicht behoben werden können, wäre dann die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 nicht doch sinnvoll?

Goldschmidt: Deutschland hat in den letzten Tagen wie das Kaninchen vor der Schlange gesessen. Das hat mich sehr beschäftigt, denn es ist eine schlimme Ausgangslage. Da müssen wir schnellstmöglich raus. Eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 wäre das Gegenteil von dem, was jetzt zu tun ist. Wir wollen eine starke Demokratie sein und europäische Werte leben. Deshalb müssen wir uns aus Putins fossilem Klammergriff befreien.

Wie kann die Politik Menschen unterstützen, die wegen explodierender Energiepreise in Notlage geraten?

Goldschmidt: Die Gaspreise steigen im Einkauf um das Sechs- oder Siebenfache. Das wird voraussichtlich zeitlich versetzt an die Kunden weitergegeben. Es wird Geringverdiener treffen, aber zunehmend auch zum Pro­blem für die Mittelschicht. Da kann der Staat nicht nur zuschauen, sondern muss weiter entlasten. Die Entlastungsmodelle des Bundes waren richtige Schritte.

Aber sie dürfen jetzt nicht enden. Vor allem müssen sie gezielt die Menschen in den Blick nehmen, die wirklich finanzielle Unterstützung brauchen. Schleswig-Holstein hat im Bundesrat gefordert, die Schutzmechanismen und Kompensationen fortzuführen. Dafür haben wir eine Mehrheit bekommen.

Schleswig-Holstein unterstützt Tafeln

Und wie hilft das Bundesland Schleswig-Holstein den Menschen?

Goldschmidt: Sehr schnell werden wir ein Sofortprogramm für die Tafeln im Land auflegen. Wir werden aber vor allem das Klimaschutzprogramm für Bürgerinnen und Bürger neu auflegen. Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen auch in den eigenen vier Wänden abzuschütteln. Hier werden wir unterstützen.

Warum wehren Sie sich dagegen, in dieser Notlage das verhältnismäßig junge und recht störungsfrei gelaufene AKW in Brokdorf, das Ende 2021 vom Netz gegangen ist, wieder zeitlich befristet hochzufahren?

Goldschmidt: Diese Diskussion zielt in die Vergangenheit und adressiert das Problem gar nicht. Problematisch sind Wärme- und Gasversorgung. Atomkraftwerke helfen hier nicht weiter. Und in Brokdorf läuft auch längst das Stilllegungsverfahren.

Mehr als zehn Prozent des deutschen Stroms werden mit Gas erzeugt. Gehen die drei noch laufenden deutschen AKW Ende 2022 wie geplant vom Netz, dürfte der Anteil steigen. Wäre es nicht sinnvoll, diese deutschen Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen?

Goldschmidt: Die Bundesregierung hat das geprüft und ist zum Ergebnis gekommen, dass ein Weiterbetrieb völlig unverhältnismäßig wäre. Auch gibt es in der Bevölkerung keine Akzeptanz für die Technologie. Wind, Sonne und kurzfristig notfalls auch Kohle sind sinnvollere und günstigere Alternativen.

Warum akzeptieren Sie einen kurzfristigen Weiterbetrieb nicht als Not- und Übergangslösung?

Goldschmidt: Wenn das einen wirklich ernsthaften Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten würde, könnte man das nochmals diskutieren. Das ist aber nicht der Fall. Der Atomausstieg basiert auf einem sehr breiten überparteilichen Konsens. Dieser wurde übrigens von einer CDU-Kanzlerin herbeigeführt. Wir sollten jetzt nicht wackeln.

Umweltminister zur Solardachpflicht

Wechseln wir das Thema. Im Koalitionsvertrag der schleswig-holsteinischen CDU mit den Grünen heißt es: „Boden ist eine endliche Ressource. Wir wollen die Flächenversiegelung reduzieren.“ Was bedeutet das aus Sicht des grünen Klimaschutzministers?

Goldschmidt: Es gibt einen großen Wunsch der Bevölkerung, in Einfamilienhäusern zu wohnen. Das respektiere ich. Es ist nicht die Zeit, den Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Gleichwohl ist die Zielsetzung zum Flächenverbrauch richtig, die sich aus der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ergibt.

Schleswig-Holsteiner, die ein Haus bauen wollen, müssen ab 2025 eine Solaranlage auf dem Dach installieren. Inklusive einer Batterie zur Speicherung des Stroms kostet das die Menschen schnell mal 30.000 Euro mehr. Wie sollen sie sich das leisten?

Goldschmidt: Wir sind in einer dramatischen Energieversorgungssituation, auch weil wir in der Vergangenheit solche Auflagen nicht gemacht haben. Hätten wir eine Solardachpflicht schon vor zehn oder 15 Jahren beschlossen, wäre das Handwerk heute ganz anders aufgestellt. Wäre die Nachfrage dauerhaft hoch gewesen, wären auch die Preise für die Anlagen geringer. Jetzt schreiben wir das als Koalition ordnungsrechtlich vor. Das gilt in drei Jahren. Der Markt kann sich dadurch darauf einstellen.

Das heißt, Sie gehen von sinkenden Anschaffungspreisen aus?

Goldschmidt: Genau. Wenn die Anlagen Pflicht werden, hat die Wirtschaft eine Perspektive und Planungssicherheit. Der Wettbewerb wird dafür sorgen, dass die Anlagen kostengünstiger werden. Dass sie jetzt so teuer sind, liegt an der großen Nachfrage in Folge der Energiekrise und der Tatsache, dass der Markt darauf nicht vorbereitet war.

Schleswig-Holstein: 50 Millionen für Klimaschutz

Dennoch verteuern sich dadurch die Preise für einen Neubau deutlich. Das muss man sich erst einmal leisten können.

Goldschmidt: Ich bestreite nicht, dass die Menschen beim Bau des Hauses Geld in die Hand nehmen müssen. Mittel- bis langfristig fahren sie aber besser. Die explodierenden Preise für fossile Brennstoffe sprechen eine deutliche Sprache.

Unterstützt das Land die Menschen, die eine Solaranlage auf dem Dach ihres Hauses installieren?

Goldschmidt: Das EEG, also das Erneuerbare-Energien-Einspeisegesetz, wurde im Bundesrat auf Druck der Länder angepasst, die Vergütung für Solaranlagen wurde erhöht. Damit ist deren Wirtschaftlichkeit gegeben.

Wie wollen Sie als Bundesland den betroffenen Familien helfen?

Goldschmidt: Wir hatten ursprünglich 50 Millionen Euro für den Bau des LNG-Terminals vorgesehen. Nachdem der Bund jetzt die Investition übernimmt, fördern wir mit dem Geld Klimaschutz. So können wir zum Beispiel Solarspeicher finanzieren. Zudem legen wir ein Förderprogramm für Wärmepumpen, Wallboxen und Fotovoltaikanlagen auf. Die Vorarbeiten dafür laufen gerade an.

Nach welchen Kriterien vergeben Sie die Zuschüsse?

Goldschmidt: Das Programm hat das Ziel, dem Klimaschutz zu dienen und die Menschen rauszubringen aus der Abhängigkeit von immer teureren fossilen Energieträgern. Je höher der Mehrwert der Maßnahme für das Klima und für die Versorgungssicherheit, desto förderungswürdiger ist sie.

„Die Erneuerbaren sind kein Hobby“

Sprechen wir über den Ausbau der Windenergie. An den Abstandsregelungen für Windräder von 800 bis 1000 Meter zu Ortschaften und 400 Meter außerhalb zur Wohnbebauung rütteln Sie nicht. Und dennoch verfolgen Sie das „perspektivische Ziel, 15 Gigawatt Leistung an Land zu installieren. Aktuell sind es keine 9 Gigawatt. Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?

Goldschmidt: Das ist möglich und eine der ersten Aufgaben der neuen Landesregierung. Wir wollen in der Legislaturperiode die Voraussetzungen für die 15 Gigawatt schaffen. Zum einen durch den Austausch alter durch leistungsfähigere Anlagen an den bestehenden Standorten. Das reicht aber definitiv nicht. Wir müssen weitere Flächen ausweisen.

Und wie wollen Sie das hinbekommen?

Goldschmidt: Wir stellen alle bisherigen Planungskriterien infrage. Nur an den Abstandsregelungen zur Wohnbebauung halten wir fest.

Sparen Sie touristische Ziele an Nord- und Ostsee weiter aus?

Goldschmidt: Alle bisherigen Schutzkriterien liegen auf dem Tisch. Also auch die Abwägung, wie mit Windkraft in touristischen Regionen umzugehen ist.

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Welchen Widerstand erwarten Sie in den Kommunen?

Goldschmidt: Das wird nicht jedem gefallen. Aber die Erkenntnis der letzten Jahre und der aktuellen Krise ist: Die Erneuerbaren sind kein Hobby, sondern eine sehr ernste Sache im öffentlichem Interesse. Insofern hat sich die Debatte geändert. Die Erkenntnis, dass wir die Erneuerbaren brauchen, um die viertgrößte Volkswirtschaft am Laufen zu halten, ist breit angekommen.

Bis wann werden Sie Ihr Ziel von 15 Gigawatt erreicht haben?

Goldschmidt: Bis zum Ende der Legislaturperiode wollen wir die Flächen dafür ausgewiesen haben. Das schreibt der Koalitionsvertrag vor. Dann kommt es auf die Windmüller an. Mein Ziel wäre es, 15 Gigawatt bis 2030 zu realisieren.

Klimaschutz ist jetzt Verfassungsziel in Schleswig-Holstein. Ist das nicht reine Kosmetik?

Goldschmidt: Das ist ein klares Signal an die staatlichen Institutionen und an die Bevölkerung. Klimaschutz ist eine zivilisatorische Aufgabe. Wohl und Wehe unserer Gesellschaft hängt davon ab, ob wir die Energiewende schaffen. Das wollen wir auch in der Verfassung festhalten und dem Klimaschutz damit einen entsprechenden Rang geben.