Kiel. Schleswig-Holsteins Innenministerin warnt zugleich vor der Unterwanderung der Impfgegner-Szene durch Radikale.
Die Zahl der Demonstranten und „Spaziergänger“ gegen die Corona-Maßnahmen in Schleswig-Holstein hat deutlich zugenommen. Gingen am 13. Dezember noch 2100 Impfgegner und Querdenker landesweit auf die Straße, so waren es vergangenen Montag bei 67 „Spaziergängen“ und Demonstrationen 6400.
Die Proteste verteilen sich nahezu auf das ganze Land. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack spricht im Abendblatt darüber, warum man die Proteste aushalten muss – aber auch über die zunehmende Unterwanderung durch Radikale. Die CDU-Politikerin (63) hatte sich im Herbst mit Corona infiziert, hat die Erkrankung aber gut überstanden.
Frau Sütterlin-Waack, haben Sie Verständnis für den friedlichen und zunehmenden Protest der Impfgegner und Querdenker?
Sabine Sütterlin-Waack Ich habe Verständnis, dass Leute ihre Meinung äußern. Das sieht unser Grundgesetz vor, das Versammlungsrecht ist eine der obersten Prämissen. Für manche Argumente der Impfgegner habe ich persönlich hingegen nicht mehr viel Verständnis.
Husum, Lübeck, Eutin oder auch die Gemeinde Nahe bei Henstedt-Ulzburg – die „Spaziergänge“ werden mehr. Die Zahl der Teilnehmer stieg ebenfalls. Sorgt Sie das?
Sabine Sütterlin-Waack Was uns Sorgen macht sind die Extremisten, die mitlaufen und versuchen, den eher bürgerlichen Protest vor allem auch in den Social-Media-Gruppen zu unterwandern.
In Nahe wurde vor der Auferstehungskirche mit ihrem engagierten Pastor ein Grabgesteck mit eindeutiger Botschaft abgelegt. Radikalisiert sich der Protest in Teilen?
Sabine Sütterlin-Waack Das ist so. Das wissen wir auch aus anderen Bundesländern, wo es Fackelmärsche vor Häusern von Politikerinnen gab. Solche Bedrohungen von Menschen können wir überhaupt nicht akzeptieren.
Sie haben in einem Interview erklärt, es werde versucht, die Demonstrationen zu unterwandern. Von wem?
Sabine Sütterlin-Waack Unser Verfassungsschutz beobachtet das genau. Es sind Menschen, die mit unserem Staatssystem und unserer staatlichen Ordnung nicht zurechtkommen: Reichsbürger, Rechtsradikale, sogenannte Delegitimierer. Sie versuchen, den Protest der ganz normalen Menschen zu unterwandern. Das müssen alle Demonstrantinnen und Demonstranten wissen und sich dann überlegen, ob sie das wollen.
Was kann die Gesellschaft dagegen tun?
Sabine Sütterlin-Waack Auch wenn nur ein kleiner Prozentsatz sich gegen die Corona-Regeln wehrt – dieser Protest ist im Moment recht laut. Als Gesellschaft können wir sagen: Wir wollen diese Unterwanderung nicht. Wir wollen die rechtsradikalen Äußerungen aus den Demonstrationen nicht. Wir müssen aufpassen, dass unsere Gesellschaft nicht gespalten wird. Wir als Gesellschaft müssen uns dagegen zur Wehr setzen. Das geschieht ja auch zunehmend. Nicht nur die Corona-Gegner hatten Zulauf und stagnieren jetzt auf hohem Niveau, auch die Gegendemonstrationen nehmen zu. Es stellen sich jetzt vermehrt Leute – friedlich und ganz bewusst unter Einhaltung aller Regeln – dagegen. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen.
In Hamburg hat der Verfassungsschutz angekündigt, die Querdenkerszene stärker beobachten zu wollen. Gilt das auch für Schleswig-Holstein?
Sabine Sütterlin-Waack Diese selbst ernannten Querdenker sind häufig Personen, die unserem Staat die Legitimation absprechen und ihn ganz bewusst untergraben wollen. Bei dieser Szene schauen unsere Sicherheitsbehörden viel genauer hin, das ist so.
Rechnen Sie mit einer weiteren Radikalisierung dieser Szene, falls es zu einer Impfpflicht kommt?
Sabine Sütterlin-Waack Ich glaube, dass sich die gesellschaftlichen Diskussionen dann weiter zuspitzen werden. Diese Entwicklung beobachten wir ja schon seit etwa November – seit die Impfpflicht diskutiert wird. Wenn wir zu einer intensiven Diskussion über das Thema kommen, werden noch mehr Menschen an den Demonstrationen teilnehmen. Diejenigen davon, die unsere Gesellschaft spalten wollen, werden versuchen, sich das zunutze zu machen.
Die Entscheidung über eine Impfpflicht wird der Bundestag treffen. Aber wenn Sie mit abstimmen dürften, wofür wären Sie?
Sabine Sütterlin-Waack Die Frage ist, ob wir eine allgemeine Impfpflicht wirklich brauchen. Ich bin grundsätzlich für eine Impfpflicht. Aber wir müssen vorher genau die Verhältnismäßigkeit prüfen, und wir müssen schauen, welche Gruppe genau wir schützen müssen: Die Alten? Die ganz Kleinen?
Die Demonstranten berufen sich auf die vom Rechtsstaat zugesicherten Freiheitsrechte. Aber haben die Radikalen unter ihnen noch Respekt vor diesem Rechtsstaat?
Sabine Sütterlin-Waack Wenn ich sehe, wie beispielsweise mit unseren Polizeibeamten umgegangen wird, macht es den Eindruck, als ob diesen Respekt zumindest nicht alle hätten. Unsere Einsatzhundertschaft war in Rostock zur Unterstützung. Sieben Beamte wurden im Einsatz verletzt. Den Tätern fehlt jeglicher Respekt vor dem Rechtsstaat und übrigens auch der nötige Anstand im Umgang mit anderen Menschen.
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Ihr Ministerium hat erklärt, die „Spaziergänge“ wie eine Versammlung behandeln zu wollen. Was bedeutet das?
Sabine Sütterlin-Waack Das bedeutet, dass die „Spaziergänge“ nach dem Versammlungsfreiheitsgesetz angemeldet werden müssen. Das ist eine formale Voraussetzung. Oft passiert das aber nicht. Dennoch ist das im Moment für uns kein Grund, die Versammlung gleich aufzulösen – solange sie friedlich bleibt und keine Straftaten aus der Menge begangen werden. Sobald aber beispielsweise Polizeibeamte angegriffen werden oder volksverhetzende Parolen laut werden, ist Schluss.
Wenn mehr als 100 Menschen gemeinsam „spazieren“, müssen sie Maske tragen. Soll die Polizei die Teilnehmer abzählen und bei Nummer 101 wegen Verstoßes gegen die Maskenpflicht einschreiten?
Sabine Sütterlin-Waack Nein. Die Polizei wägt sehr umsichtig und vorsichtig die Folgen einer Auflösung einer Versammlung ab. Ist es eng, viele Leute stehen beisammen und tragen keine Maske, wird der „Spaziergang“ auch schon mal aufgelöst. Das war zum Beispiel in Eckernförde so. Unsere Regel ist: Wir behandeln diese Versammlungen nicht anders als andere Demonstrationen. Es gibt keine Sonderrechte für „Spaziergänge“.
Muss eine Demokratie diese „Spaziergänge“ aushalten?
Sabine Sütterlin-Waack Natürlich. Die Versammlungsfreiheit ist wie die Meinungsäußerung zu Recht ein hohes Gut in unserer Verfassung, auch wenn das manchmal schwer auszuhalten ist. Schlimm finde ich, wenn uns aus den Demonstrationen oder in Mails vorgehalten wird, Deutschland sei ein Staat wie 1933. Glauben diese Menschen ernsthaft, dass sie sich 1933 hätten so verhalten dürfen? Das sage oder schreibe ich den Demonstranten dann auch sehr deutlich.