Schleswig-Holstein. Stefan Seidler spricht im Interview über die Vernachlässigung von Schleswig-Holstein in Berlin und wie er das ändern möchte.
Die „Mission Bundestag“ ist gelungen. Zumindest der Start dieser Ein-Mann-Mission. Der südschleswigsche Wählerverband schickt nach der Wahl vor drei Wochen wieder einen Abgeordneten in den Bundestag – erstmals seit fast 70 Jahren.
Der heißt Stefan Seidler, ist 42 Jahre alt, Sohn einer Dänen und eines Deutschen, zweisprachig in Flensburg aufgewachsen, verheiratet. Gerade einmal 55.000 Stimmen der Zweitstimmen genügten dem Vater zweier Töchter, schließlich ist der SSW als Partei der dänischen und friesischen Minderheit in Schleswig-Holstein von der Fünf-Prozent-Klausel befreit.
Hamburger Abendblatt: Herr Seidler, was versteht man unter dem dänischen Begriff Hygge?
Stefan Seidler: Der Begriff ist schwierig zu übersetzen. Das ist Gemütlichkeit verbunden mit einem Lebensgefühl. Es ist eine nordische Gelassenheit mit direktem Zugang zu anderen Menschen. Man kann auch alleine Hygge erzeugen, am hyggeligsten ist es aber immer noch mit anderen Menschen zusammen. Man geht aufeinander ein und beschäftigt sich miteinander.
Und wie wollen Sie in dem Berliner Politikbetrieb hyggelig bleiben?
Seidler: Lacht. Ich bringe ganz viel Hyggeligkeit mit, gehe direkt auf die Menschen zu, freundlich. Ich mag es angenehm um mich herum. Das ist auch für den kollegialen Austausch ganz wichtig. Sicher ist der Berliner Politik hart und rau und von einer Ellenbogenmentalität geprägt, aber man sollte ordentlich und menschlich miteinander umgehen. Das werde ich auf jeden Fall immer tun, und das erwarte ich auch von meinem Gegenüber.
Wie haben Sie die erste Zeit in dem unübersichtlichen Parlamentsbetrieb empfunden?
Seidler: Es war nicht viel Zeit zu realisieren, was da passiert ist. Vorgestern hatte ich ein schönes Erlebnis: Ich wollte mir hinter den Kulissen den Aufbau des Zapfenstreiches für die Soldaten im Afghanistaneinsatz vor dem Reichstag anschauen. Das Regierungsviertel war abgeriegelt. Ich bin dann auf das Dach des Reichstages. Dort war ich mit zwei Sicherheitsleuten ganz allein und konnte zum ersten Mal kurz durchatmen. Hier realisierte ich auf einmal, was in den vergangenen Wochen passiert ist.
Sie sind nicht nur neu in den Bundestag gewählt, sondern dort auch als Einzelkämpfer unterwegs. Also: Keine Fraktion, kein Apparat, kein großes Unterstützerteam. Was wollen Sie im Bundestag bewegen?
Seidler: Mir ist es ganz wichtig Themen in den Politikbetrieb zu bringen, die normalerweise zu kurz kommen: Als SSW geht es uns um Minderheitenpolitik. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und Robert Habeck von den Grünen habe ich gesagt, dass es möglich ist, einen Bundeskanzler Olaf Scholz auch mit der Stimme des SSW zu wählen, wenn der Koalitionsvertrag auf die Rechte der Minderheiten eingeht. Auch wenn ich weiß, dass unsere Stimme nicht ausschlaggebend ist, bin ich trotzdem in den Dialog mit beiden getreten. Und das wurde positiv aufgenommen.
„Unser Norden kommt in Berlin viel zu kurz“, heißt es in Ihrem Internetauftritt. Wie genau wollen Sie das ändern?
Seidler: Ich prangere die Ungleichbehandlung schon lange an. Wenn Schleswig-Holstein zu wenig unterstützt wird, werde ich mich als Bundestagsabgeordneter bemerkbar machen - in der parlamentarischen Arbeit und in den Medien.
Ganz konkret, was wollen Sie für den Norden herausholen?
Seidler: Wir brauchen mehr Fördermittel für den Norden – für Straßen- und Autobahnausbau, für bessere Bahnverbindungen, die Digitalisierung. In den vergangenen Jahren sind wir in vielerlei Hinsicht zu kurz gekommen. Ein Beispiel: Der Bundesverkehrswegeplan 2030 sieht für Bayern 325 Maßnahmen vor - und für Schleswig-Holstein lediglich 22. Das muss sich ändern. Ein anderes Thema: Die Schleswig-Holsteiner zahlen bundesweit die höchsten Strompreise. Das tun sie, weil wir im Norden die Energiewende mehr oder weniger komplett vollzogen haben. Das kostet, und diese Kosten werden auf unsere Bürgerinnen und Bürger abgewälzt. Dafür muss es einen bundesweiten Ausgleich geben. Und es muss auch eine vernünftige Reform des EEG geben, also des Erneuerbare-Energien-Gesetzes.
Sie sollen im Bundestag ein Plätzchen finden zwischen SPD und Grünen. Fühlen Sie sich da auch politisch Zuhause?
Seidler: Wenn man uns traditionell in rechts oder links verorten möchte, sitzen wir da ganz vernünftig. Aber der SSW arbeitet, wie in Schleswig-Holstein in der Landespolitik und in den Kommunen praktiziert, mit allen Demokraten zusammen. Es gibt bei einigen Themen Übereinstimmungen mit Christdemokraten und Liberalen, aber bei der Sozialpolitik oder der Umweltpolitik sind wir nicht weit weg von Grünen und SPD.
Im Moment spricht viel für einen erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen von SPD, Grünen und FDP und einen künftigen Bundeskanzler Olaf Scholz. Wäre das auch Ihr favorisiertes Regierungsbündnis?
Seidler: Insbesondere nach den Entwicklungen der letzten Tage. Ich sehe keine Führungsperson bei den Christdemokraten, die die Kanzlerschaft übernehmen könnte. Nach 16 Jahren Unionsgeführter Regierung ist es Zeit für einen Wandel in Deutschland.
Sie hatten ein Angebot des SPD-Fraktionschefs Rolf Mützenich, in der sozialdemokratischen Fraktion unterzuschlüpfen. Aber Sie haben dankend abgelehnt. Hatten Sie keine Lust auf einen Fraktionszwang?
Seidler: Korrekt. Ich muss und will unabhängig sein. Das haben wir unseren Wählerinnen und Wählern versprochen. Übrigens: Nicht nur die SPD hat mir angeboten, bei ihr unterzuschlüpfen. Aber wir haben ausgemacht, im Austausch zu bleiben und konstruktiv zusammenzuarbeiten. Dadurch, dass ich keiner Fraktion angehöre, kann ich den Finger in die Wunde legen, wann und wie es mir passt. Diese Unabhängigkeit ist ganz wichtig, wenn ich Politik für uns machen möchte.
Ihre Mutter ist Dänin, Ihr Vater Deutscher. Sie koordinierten zuletzt für die schleswig-holsteinische Landesregierung die Zusammenarbeit mit Dänemark. Wie sehen Sie Ihre Rolle im Bundestag: Als Vertreter der dänischen Minderheit oder als Vertreter aller Schleswig-Holsteiner?
Seidler: Beides. Schleswig-Holstein ist die Heimat der dänischen Minderheit. Wir wollen, dass die Lebensqualität in unserer Heimat gut ist – für Alle.
Was hat Sie persönlich bewogen, für den Bundestag zu kandidieren?
Seidler: In meiner Funktion als Koordinator der deutsch-dänischen Zusammenarbeit im Auftrag Schleswig-Holsteins habe ich des Öfteren mitbekommen, wie von Berlin und von Kopenhagen über unsere Köpfe hinweg bestimmt wurde. Es gibt einige Punkte, wo es mich ärgert, dass wir bislang keinen Einfluss nehmen konnten. Ein ganz konkretes Beispiel: Die von Dänemark wieder eingeführten Grenzkontrollen. Das ist reine Symbolpolitik, die die Entwicklung im Grenzland behindert. Ein anderes Beispiel: Fördermittel des Bundes sind nicht im Norden angekommen mit der Begründung, dass davon auch beteiligte dänische Unternehmen profitierten. Das geht nicht. Oder nehmen Sie den Digitalpakt der Bundesregierung vor eineinhalb Jahren. Ziel war, alle Schulen mit digitalen Endgeräten auszustatten. Was wurde zunächst vergessen? Die Schulen der dänischen Minderheit.
- Ole von Beust lobt die SPD – und nennt die CDU "wehrlos"
- Neuer BUND-Chef will Klage gegen A 26 Ost prüfen
- Wie Olaf Scholz in Berlin plötzlich Katharina Fegebank traf
Den Ärger über den dänischen Grenzzaun haben Sie angesprochen. Was aber machen Regierung, Parlament und Verwaltung in Kopenhagen besser als in Berlin?
Seidler: In der Digitalisierung ist Dänemark Jahre voraus. Breitband gibt es bis ins kleinste Dorf. In der Verwaltung oder den Schulen arbeitet das Land nur mit ganz wenigen Plattformen, während in Deutschland beinahe jede Schule und jede Kommune eigene Plattformen entwickeln, die nicht miteinander kompatibel sind. In der Bildung ist das Land besser als Deutschland. In der Beschleunigung von Großprojekten können wir ganz viel von Dänemark lernen. Dort wird die Bürgerbeteiligung vorgeschaltet. Anders in Deutschland, wo Bürokraten und Juristen erst einmal alles aushecken, bevor Bürger eingeschaltet werden. Und generell gilt: Ein bisschen mehr Gelassenheit und flachere Hierarchien würden einer deutschen Verwaltung, die immer noch sehr von preußischen Strukturen geprägt ist, gut tun. Das würde mehr Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern in Verwaltung und Politik schaffen.