Hamburg/Kiel. Augenzeuge schildert fatale Szenen während des Tornados. Kieler Klimaforscher: „Erschreckend.“ Drama auch um Seglerin vor Travemünde.
Nachdem am Mittwoch ein Tornado über Kiel hinweg gefegt ist, bleibt es auch am Donnerstag im Norden weiter stürmisch. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat eine Unwetterwarnung für die schleswig-holsteinische Nordseeküste herausgegeben.
Bis zum Vormittag wurden an der Nordsee orkanartige Böen mit Geschwindigkeiten bis zu 110 Kilometer pro Stunde aus West bis Nordwest erwartet. In Nordfriesland und Dithmarschen wurde zudem mit Starkregen gerechnet. Im Binnenland und an der Ostsee soll es zu Sturmböen kommen. Bäume könnten entwurzelt und Dächer beschädigt werden.
Unwetter: Einsätze von Polizei und Feuerwehr
In der Nacht zum Donnerstag verzeichneten Polizei und Feuerwehr trotz Starkregenwarnung – befürchtet waren bis zu 35 Liter pro Quadratmeter innerhalb von sechs Stunden – nur noch wenige witterungsbedingte Einsätze.
Die Polizeileitstelle Nord etwa meldete seit Mittwochabend sechs. Häufig hätten Bäume oder Äste auf der Straße gelegen, auf Sylt sei eine Baustellenbeschilderung umgeweht worden. Die Polizei-Leitstelle in Kiel vermerkte fünf Einsätze. „Das war aber nichts Größeres, meistens lagen Bäume auf der Straße“, sagte ein Polizeisprecher am Donnerstagmorgen.
In den Kreisen Dithmarschen, Steinburg, Pinneberg und Segeberg rückte die Feuerwehr zu 15 Einsätzen aus. In Gudendorf im Kreis Dithmarschen und in Lentföhrden im Kreis Segeberg hätten Straßen und in Norderstedt habe eine Unterführung unter Wasser gestanden.
Zudem waren die Buslinien auf Föhr am Donnerstagmorgen beeinträchtigt und einige Fähr-Linien zwischen den Inseln Hooge und Langeneß sowie vom Festland zu den Inseln fielen aus, hieß es auf der Seite der Wyker Dampfschiffs-Rederei.
In Hamburg seien die Schäden durch den Wind ebenfalls überschaubar geblieben – lediglich ein umgestürzter Baum musste von einer Straße in Eidelstedt geräumt werden.
Tornado reißt in Kiel Menschen ins Wasser
Sehr viel dramatischer war die Situation in Kiel. Es waren schier unglaubliche Szenen, die sich dort am Mittwochabend ereignet haben: Ein Tornado hatte mehrere Menschen ins Wasser gespült. Rund zwei Dutzend Feuerwehreinsätze wurden ausgelöst.
Sechs Verletzte habe es an der Kiellinie – der beliebten Promenade am Förde-Ufer – gegeben, drei von ihnen seien schwer verletzt gewesen, sagte eine Feuerwehrsprecherin am Donnerstag. Die Betroffenen waren bei einem Versuch, ein Ruderboot aus dem Wasser zu retten, auf einem Steg überrascht worden.
Einige wurden durch herumfliegende Teile verletzt, andere durch die Kraft des Tornados ins Wasser geworfen. Am Mittwochabend war zunächst von sieben schwer und mittelschwer Verletzten sowie mehreren Leichtverletzten die Rede gewesen.
Rund zwei Stunden lang hielten die Einsätze rund 60 Feuerwehrleute auf Trab. Allein an der Kiellinie waren acht Rettungswagen und drei Notärzte im Einsatz. Nach Polizeiangaben war der erste Notruf am Mittwoch um 17.56 Uhr eingegangen.
Einsatzschwerpunkt auch in Neubaugebiet
Ein weiterer Einsatzschwerpunkt war ein Neubaugebiet im Kieler Stadtteil Meimersdorf. Dort wurde ein Dach abgedeckt, von weiteren Dächern lösten sich Ziegel, wie die Feuerwehrsprecherin am Donnerstag sagte.
Auch in Kiel-Gaarden lösten sich Dachziegel von Dächern. In beiden Stadtteilen wurde dadurch niemand verletzt. Ein Video auf Twitter zeigt, wie der Tornado durch die Stadt zog.
Tornado: Meteorologen schätzen die Stärke ein
„Auf Grundlage von Bildern gehen wir davon aus, dass es sich um einen Tornado handelte“, sagte Meteorologe Michael Bauditz vom Deutschen Wetterdienst (DWD). Endgültig könne er es noch nicht sagen. Tornado-Experte Andreas Friedrich, ebenfalls DWWD, sagte am Donnerstag: „Von der Stärke her ist es nach ersten Auswertungen aber ein eher schwächerer Tornado gewesen.“
„Der Tornado von Kiel ist nach bisherigen Expertenschätzungen in die Kategorie F1 der Fujita Skala einzuordnen“, sagte derweil Meteorologe Björn Goldhausen von WetterOnline. Allerdings werde erst im Nachhinein anhand der Schäden eine endgültige Einordnung vorgenommen werden können.
Die Fujita-Skala wurde 1971 von Dr. Tetsuya Theodore Fujita eingeführt und beschreibt die Stärke eines Tornados unter den Aspekten Windgeschwindigkeit und Zerstörungsgrad. „Im Allgemeinen werden für die Tornado-Klassifikation die Stärken F0 für Windgeschwindigkeiten von 116 Kilometer pro Stunde mit leichten Schäden bis F5 für Windgeschwindigkeiten über 418 Kilometer pro Stunde und verheerenden Verwüstungen benutzt, teilweise wird auch noch F6 hinzugenommen“, erklärt Goldmann.
Tornado trifft Ruderclub: „Alle emotional mitgenommen“
In der Kieler Innenförde musste die Feuerwehr zu einem größeren Einsatz ausrücken: Bei dem Versuch, zwei Ruderboote aus dem Wasser zu retten, seien mehrere Ruderer auf einem Steg überrascht worden, teilte die Feuerwehr weiter mit. „Sie sind vollständig durcheinander gewirbelt worden und dabei sind auch Leute ins Wasser gefallen.“ Einige hätten umherfliegende Gegenstände an den Kopf bekommen. 60 Helfer waren vor Ort, der Einsatz dauerte etwa zwei Stunden.
Zum Zeitpunkt des Vorfalls saß Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) im Wirtschaftsausschuss der Stadt und erfuhr durch eine SMS der Feuerwehr von dem Sturm. Kurz danach habe er eine Kurznachricht seines Sohnes erhalten, der auf dem Weg zum Rudertraining bei dem Club war, sagte er. Sein Sohn habe Glück gehabt, sei nur wenige Augenblicke nach dem Tornado dort eingetroffen. „Da sieht man, wie schnell sowas geht“, sagte der Verwaltungschef. Er sprach der Feuerwehr und den Rettungskräften seinen großen Dank aus.
Der Vorsitzende des Ersten Kieler Ruder-Clubs von 1862, Bernd Klose, sagte: „Es sind Menschen betroffen. Das ist traurig.“ Rund um den Verein erinnerten am späten Abend ein umgestürzter Baum, abgerissene Äste oder ein umgekippter Müllbehälter an das heftige Ereignis. „Da ist viel durch die Gegend geflogen“, sagte ein Mitarbeiter eines nahen Lokals. „Das hat alle emotional mitgenommen.“
91-jähriger Augenzeuge rudert direkt wieder
„Das ging so schnell“, erzählte Ruderer Uwe Johannsen, 91 Jahre altes Mitglied des Ruderclubs, am Donnerstag. „Da kam eine riesige Böe und fegte die Leute vom Steg ins Wasser, zwei waren besinnungslos“, schilderte der Augenzeuge. „Die Leute wurden nur so ins Wasser gerissen, schlimm.“
Dennoch setzte sich der Schlagmann in einem Vierer mit Steuerfrau am Donnerstagvormittag direkt wieder in sein schmales Ruderboot. Wie er denn nach so einem Erlebnis gleich wieder rudern gehen könne? „Das mache ich jetzt schon 71 Jahre“, sagte Johannsen. „Da rudert man einfach weiter.“ Und dann ging es los: „Ablegen!“, rief die Steuerfrau um 10.43 Uhr „ihren“ vier Männern im Boot zu. Gut 16 Stunden zuvor hatte genau hier der Tornado gewütet.
Seglerin bricht nach Gewitterböe zusammen
Auch in der Lübecker Bucht spielte sich am Mittwochabend ein Drama in Folge des Unwetters ab. Dort mussten Seenotretter vor Travemünde eine leblose Seglerin in der Ostsee reanimieren. Die 74-Jährige war auf ihrer Segeljacht zusammengebrochen, wie die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mitteilte. Demnach habe ihr Mann die Einsatzkräfte alarmiert.
Die 74-Jährige kollabierte nach dem Durchzug einer Gewitterböe in Höhe des östlichen Endes des Brodtener Steilufers am Ruder. Eine Mitseglerin übernahm die Reanimation, bevor sie von zwei Seenotrettern abgelöst wurde. Die 74-Jährige konnte wiederbelebt werden. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht. Ihr Mann erlitt einen Schock.
Meteorologe: Tornados sind nicht vorherzusagen
Tornados auf dem Wasser sind zu dieser Jahreszeit nach Darstellung eines Meteorologen nicht ungewöhnlich – auch nicht vor Kiel. „So etwas ist absolut nicht vorherzusagen“, sagte der Kieler Diplom-Meteorologe Sebastian Wache von WetterWelt. Entstanden sei der Tornado am Rande Kiels im Stadtteil Meimersdorf.
Tornados sind Wirbelstürme. Sie entstehen bei großen Temperaturunterschieden und treten in Mitteleuropa häufig zusammen mit Gewittern auf. Dabei reicht aus der Gewitterwolke ein rüsselartiger Wolkenschlauch bis in Bodennähe.
Mitte August hatte ein Tornado schwere Schäden in Ostfriesland angerichtet. Weggerissene Hausgiebel, umgestürzte Fahrzeuge und zahllose Trümmerteile von Dächern und Zäunen zeugten davon, mit welcher Gewalt der Tornado über die Gemeinde Großheide gezogen war. Verletzt wurde laut Feuerwehr damals niemand.
Forscher: Tornado kein Anzeichen des Klimawandels
Nach Ansicht des Forschers Mojib Latif idt der Kieler Tornado kein Anzeichen des Klimawandels. „Ich würde jetzt keine Verbindung zur globalen Erwärmung herstellen“, sagte Latif am Donnerstag. „Es ist ein seltenes Phänomen, das hin und wieder auftaucht, bedeutet aber keine neue Qualität.“
Der Tornado war nur wenige Meter von Latifs Kieler Büro im Geomar Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung am Ufer der Förde aufgetreten. Latif selbst war zu diesem Zeitpunkt nicht in Kiel.
Latif: Tornado hätte noch mehr anrichten können
„Das war natürlich schon ein erschreckendes Szenario“, sagte der Wissenschaftler angesichts der Bilder von dem Ereignis. „Tornados haben immer ein enormes Schadenspotenzial.“ Kiel sei noch glimpflich davongekommen.
„Tornados sind zwar kleinräumig. Sie können aber ganze Straßenzüge verwüsten, wenn man Pech hat, und dann können auch Menschen ums Leben kommen“, sagte Latif. „Wenn sie auf dem Wasser auftreten, ist das wie eine glückliche Fügung, wenn dort nicht gerade ein Schiff fährt.“
Insofern hätte alles noch schlimmer ausgehen können. „Glück im Unglück, würde ich sagen.“ Der Tornado habe zwar auch die Kiellinie erwischt. „Aber er hat sich ja im wesentlichen über dem Wasser ausgetobt.“
Das Problem bei Tornados sei, dass man sie überhaupt nicht vorhersagen könne, sagte Latif. „Bei entsprechender Wetterlage können sie immer entstehen.“ Alle paar Jahre könne dies auch in Kiel vorkommen. „Wenn sie draußen auf dem Meer auftreten, dann können sie unbeobachtet bleiben – deshalb ist die Dunkelziffer ziemlich hoch.“
Wetter: Sturmtief „Yogi“ zieht über die Nordsee
Noch bevor das aktuelle Unwetter über Norddeutschland zog, wurde die Bevölkerung über die Apps Katwarn und Nina vor Gefahren wie umstürzenden Bäumen und umherfliegenden Dachziegeln gewarnt. Und auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) gab bereits am Mittwoch für die Nordsee-Regionen eine amtliche Unwetterwarnung vor orkanartigen Böen inklusive Starkregen heraus.
Laut dem Diplom-Meteorologen Dominik Jung vom Portal wetter.net nimmt die Sturmsaison nun Fahrt auf. Verantwortlich für die Wetterlage seit Mittwoch ist das Sturmtief "Yogi", das auch am Donnerstag für stürmisches und nasses Wetter sorgen wird.
Auch in den kommenden Tagen wird es ungemütlich bleiben. "Am Sonntag, dem Tag der Deutschen Einheit, droht neues Ungemach", sagt Jung. Da kann es in Hamburg und im Norden wieder ordentlich stürmen und regnen.