Schleswig-Holstein. Heiner Garg im Interview über den Pandemie-Verlauf im Norden, nötige Konsequenzen und die Aussichten für den Sommer 2022.

Impfen auf Äckern, in Bahnhöfen, Einkaufszentren und Wohnquartieren – Schleswig-Holstein hat einen etwas anderen Weg gewählt als Hamburg. Und ist damit recht erfolgreich. Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) über trotzdem steigende Inzidenzen, eine Impfpflicht und die Zuversicht, dass es nicht zu einem neuerlichen Lockdown kommt.

Hamburger Abendblatt: Herr Garg, ist Ihnen vor dem Hintergrund des Pandemieverlaufs in den vergangenen Wochen als Gesundheitsminister langweilig geworden:

Heiner Garg: Nein, ganz und gar nicht (lacht). Mir war es als Gesundheitsminister auch vor der Pandemie alles andere als langweilig. Wir stehen im Gesundheitssystem vor riesigen Herausforderungen: Wir sind eine älter werdende Gesellschaft mit weiter steigenden Ansprüchen an die gesundheitliche und pflegerische Versorgung; wir stehen vor der Herausforderung, die Versorgung mit Fachkräften im Gesundheits- und Pflegebereich sicherzustellen; wir haben Krankenhausstrukturen, die an die Bedürfnisse angepasst werden müssen; wir müssen von der nach wie vor viel zu starren Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu einer Patientenzentrierten Versorgung kommen – wir brauchen dafür zum Beispiel neue Vergütungssysteme.

Diese Projekte haben Sie jetzt, in der Phase der geringeren Corona-Inzidenzen, wieder in den Fokus genommen?

Garg: Nicht so, wie ich es mir wünschen würde. Die Arbeitsbelastung im Ministerium hat überhaupt nicht nachgelassen, sie ist so hoch wie zum Höhepunkt des Infektionsgeschehens, auch wenn die aktuelle Lage nach wie vor verhältnismäßig entspannt ist.

Warum ist das so?

Garg: Zu Beginn der Impfkampagne hatten wir viel zu wenig Impfstoff für die vielen Menschen mit einem Anspruch auf eine Impfung. Das war staatlich organisierte Mangelverwaltung. Jetzt haben wir in Schleswig-Holstein Impfquoten, die auch im Bundesvergleich ausgezeichnet sind. Aber wir wissen, dass sie noch immer nicht ausreichen. Diese weiteren noch fehlenden 15 bis 20 Prozent der Menschen sind viel schwieriger zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Daran arbeiten wir sehr intensiv. Darüber hinaus arbeiten wir seit Wochen daran, damit wir gut aufgestellt durch Herbst und Winter kommen.

Noch vor wenigen Wochen freuten sich die Menschen über einen Impftermin wie über ein Weihnachtsgeschenk, jetzt bleiben die Impfzentren auf Vakzinen sitzen. Was wollen Sie tun, um die Impfbereitschaft bei diesen schwierigen, skeptischen 15 bis 20 Prozent zu befördern?

Garg: Zum einen impfen wir – schon seit einigen Wochen – ohne Terminvergabe. Wir schicken mobile Impfteams in Quartiere, in denen Menschen wohnen, die sich sonst eher nicht um einen Termin bemühen können oder wollen. Mit dem Bauernverband haben wir Erntehelferinnen und Erntehelfer vor Ort geimpft. Wir impfen an Bahnhöfen, in großen Einkaufszentren – also so niedrigschwellig wie möglich. Das Motto ist: Wenn die Menschen nicht mehr ins Impfzentrum strömen, bringen wir den Impfstoff zu ihnen.

Wäre es vor dem Hintergrund der stockenden Impfkampagne und der hohen Fehlerquote der Corona-Tests nicht richtig, vollständig Geimpften mehr Freiheiten zurückzugeben als Getesteten – beispielsweise beim Kneipen- oder Konzertbesuch?

Garg: Ich glaube nicht, dass man zurückhaltende und skeptische Menschen von einer Impfung überzeugt, in dem man sie unter Druck setzt. Man muss sie stattdessen überzeugen von den unglaublichen Vorteilen einer Impfung: Das sind der Schutz der eigenen Gesundheit, der Schutz der Menschen, die einem am allerwichtigsten sind und der Dienst an der Gemeinschaft. Das positive Momentum verbunden mit ganz niedrigschwelligen Angeboten – das ist der richtige Weg. Dass staatlich verordnet nur noch Geimpfte und Genesene beispielsweise in Innenräume von Restaurants dürfen, halte ich für ausgesprochen schwierig. Das wäre de facto eine Impfpflicht durch die Hintertür. An der aktuellen Drei-G-Strategie aus geimpft, genesen, getestet sollte man festhalten.

Wie stehen Sie zu einer Impfpflicht für Berufsgruppen, die auch körperlichen Kontakt zu anderen Menschen haben, beispielsweise in der Alten- oder Krankenpflege?

Garg: Zunächst müssen wir versuchen, die Menschen von einer Impfung zu überzeugen. Neben den genannten guten Argumenten kommt hier noch ein weiteres hinzu: der unmittelbare Schutz der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen, für die man täglich arbeitet. Diese Argumente sollten genügen, die Menschen zu überzeugen. Sollte sich aber herausstellen, dass die Impfbereitschaft im medizinischen und pflegerischen Bereich extrem gering ist, würde ich mich einer Impfpflicht nicht kategorisch verschließen. Aber das sehe ich zurzeit in Schleswig-Holstein nicht.

Es gibt Bestrebungen, die Antigen-Schnelltests kostenpflichtig zu machen, um so den Druck auf Impfunwillige zu erhöhen. Was halten Sie davon?

Garg: Wenn jede und jeder die Möglichkeit hatte, ein Impfangebot wahrzunehmen, dann bin ich für kostenpflichtige Tests beispielsweise vor einem Restaurantbesuch für diejenigen, die sich explizit nicht impfen lassen wollen. Ausdrücklich ausnehmen von einer Kostenpflicht würde ich immer diejenigen, die sich nicht impfen lassen können oder dürfen. Hintergrund dieser Überlegung ist aus meiner Sicht aber auch ein finanzieller Aspekt. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler müssen horrende Summen zur Pandemiebewältigung aufbringen. Gleichzeitig stehen wir vor großen Herausforderungen im Hinblick auf dringend notwendige Investitionen in Bildung, Digitalisierung, Gesundheit und Pflege. Ich finde diesen Aspekt darf man auch nicht unberücksichtigt lassen.

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Eine Impfquote von rund 85 Prozent erreichen Sie umso schneller, je mehr Kinder ab zwölf Jahren und Jugendliche sich impfen lassen …

Garg: Es gibt zwei von der europäischen Arzneimittelagentur für diese Altersgruppe zugelassene Impfstoffe, die beiden mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna. Die Politik hat aus meiner Sicht daher die Pflicht, jungen Menschen ein niedrigschwelliges, freiwilliges Impfangebot zu machen. Darauf haben die jungen Leute einen Anspruch. Schleswig-Holstein hat schon vor einigen Wochen die Impfzentren für Zwölf- bis 17-Jährige bei sogenannten Open-House-Aktionen geöffnet. Auch eine Registrierung für einen Impftermin war entsprechend möglich. Bereits mehr als 28 Prozent dieser Altersgruppe haben in Schleswig-Holstein mindestens eine Impfung erhalten. Dass die Gesundheitsministerkonferenz diesen Weg quasi mit ihrem Beschluss bestätigt, halte ich für absolut richtig.

Monatelang galt Schleswig-Holstein als Corona-Musterländle. Die Inzidenzen waren schon sehr gering, als andere Bundesländer noch auf die Notbremse traten. Unter den Top Ten der Landkreise mit den geringsten Zahlen waren immer mehrere Kreise aus dem Norden. Jetzt weist das RKI für Schleswig-Holstein nach Hamburg eine der höchsten Inzidenzen bundesweit aus. Bereitet Ihnen die Entwicklung keine Sorge?

Garg: Die Sommerferien in Schleswig-Holstein sind zu Ende und die Urlauber wieder zurück – mit einem Anstieg der Inzidenzen war zu rechnen. Deshalb bereitet mir die aktuelle Situation noch keine großen Sorgen, aber wir beobachten die Entwicklung und nehmen sie sehr ernst. Wichtig ist aber auch: Beim Impffortschritt sind wir in der Spitzengruppe der Bundesländer. Und die eingesetzten Impfstoffe bieten einen sehr hohen Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe. Der Blick allein auf die Inzidenzen ist nicht mehr zielführend.

Ist es denn überhaupt noch richtig, die Inzidenz als Maßstab für politisches Handeln zugrunde zu legen, wenn aufgrund der Impfungen die Corona-Verläufe nicht mehr ganz so gravierend sind?

Garg: Ich plädiere für einen Dreiklang aus Inzidenz, Hospitalisierung – also: Wie viele Menschen werden mit einer Covid-Erkrankung im Krankenhaus behandelt – und Belastung der Intensivstationen. In die Lagebewertung sollte dann noch die Verteilung der Erkrankungen auf die Altersklassen einfließen.

Lässt sich ein neuer Lockdown im Herbst/Winter vermeiden, auch wenn die Inzidenz, die Hospitalisierung und die Belastung der Intensivstationen wieder steigen?

Garg: Ein Lockdown in der Form der vorangegangenen drei anderen ist undenkbar, weil er aus meiner Sicht völlig unverhältnismäßig wäre. Die Situation ist eine völlig andere. Wir haben vier zugelassene, wirksame Impfstoffe, und wir haben Testkapazitäten in nie da gewesenem Ausmaß. Alle Maßnahmen eines Lockdowns müssen juristisch nicht nur gut begründet, sondern auch verhältnismäßig sein. Für den hoffentlich nie eintretenden Fall einer dominierenden Virusvariante, gegen die kein Impfstoff hilft, würde die Politik neu diskutieren müssen.

Wie lautet Ihre Prognose: Wie stark wird dieses Virus unser Leben in einem Jahr noch bestimmen?

Garg: Ich hoffe sehr, dass wir einen weitgehend normalen Sommer 2022 erleben werden. Vielleicht werden wir an einigen Dingen aus der Zeit der Pandemie noch festhalten – beispielsweise bei Flugreisen einen Mund-Nase-Schutz zu tragen. Denn das Virus wird nicht verschwinden – wir müssen lernen, damit zu leben. Die finanziellen Folgen der Pandemie für staatliche Haushalte werden uns weit über das Jahr 2022 hinaus beschäftigen. Und wir werden uns mit den Konsequenzen beschäftigen, die wir aus der Pandemie ziehen. In Deutschland ist vieles in der Pandemie gut gelaufen. Aber wir müssen uns besser auf solche Ereignisse vorbereiten und Konsequenzen ziehen für die Kliniken, die Gesundheitsinfrastruktur und die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Denn so ein Ereignis kann irgendwann wieder auf uns zukommen.

Wird es denn im gerade skizzierten Sommer 2022 noch einen Gesundheitsminister Heiner Garg geben?

Garg: Ich arbeite darauf hin. Gemeinsam mit Wirtschaftsminister Bernd Buchholz, unserem Fraktionschef Christopher Vogt und vielen anderen in der FDP unternehme ich alles, dass die Freien Demokraten in Schleswig-Holstein im kommenden Mai ein so exzellentes Landtagswahlergebnis erzielen, dass ohne uns keine Regierung aus der Mitte des demokratischen Spektrums heraus gebildet werden kann. Wir wollen in Regierungsverantwortung bleiben.

Auch in einer Jamaika-Koalition, sollte es für ein Zweierbündnis nicht reichen?

Garg: Ich regiere gerne in diesem Bündnis. Ich hätte überhaupt nichts gegen eine Verlängerung.