Kiel. Schleswig-Holsteins Fraktionschef hofft auf eine rot-rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr.

Ralf Stegner (60) und Olaf Scholz (62) stammen aus einer Generation. Scholz ist seit 1975 Mitglied der SPD, Stegner seit 1982. Die beiden Norddeutschen haben also viele Berührungspunkte. Dennoch sind sie Antipoden in ihrer Partei. Stegner, SPD-Fraktionschef im Kieler Landtag, gehört dem linken Flügel an, Scholz, derzeit Bundesfinanzminister, ist konservativer Sozialdemokrat. Beim Mitgliederentscheid um den SPD-Vorsitz sind sie gegeneinander angetreten – und haben beide gegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans verloren. Für Stegner und Scholz könnte die Bundestagswahl 2021 zur Zäsur werden. Stegner will für den Bundestag kandidieren, Scholz will Kanzler werden. Das klappt nur, wenn die SPD viele Stimmen bekommt. Die Antipoden haben nun ein gemeinsames Ziel.

Hamburger Abendblatt: Sie sind kein Freund von Olaf Scholz, oder?

Ralf Stegner: Ich bin Parteifreund von Olaf Scholz. Wir haben viele Jahre in der Führung der SPD zusammengearbeitet – in der Regel auf unterschiedlichen Flügeln der Partei, aber nie gegeneinander. Und seitdem ich in der SPD bin, war ich noch nie der Auffassung, dass die Gegner der Partei auf den anderen Parteiflügeln zu suchen sind. Ich unterstütze seine Kanzlerkandidatur. Ich glaube, dass er dafür der richtige Mann ist.

SPD-Kanzlerkandidat Scholz: "Ich will gewinnen"

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    Was schätzen Sie an Herrn Scholz?

    Stegner: Er ist ein sehr besonnener, erfahrener, kluger Politiker, der auch eine Tugend hat, die ich besonders mag bei Führungskräften: Sie schimpfen, wenn die Lage schlecht ist, nicht auf die eigene Partei. Wir haben viele, die das tun. Er tut das nicht. Ich bin in manchen Punkten nicht seiner Auffassung. Wir haben auch andere Erfahrungswelten, teilweise jedenfalls. Aber er ist immer ein kluger Gesprächspartner. Er ist für uns ein großes Pfund – gerade in diesen Zeiten, wo die Welt wegen der Corona-Krise sehr stark auf die Exekutive schaut. Wir haben das erste Mal seit Bestehen der Bundesrepublik, also seit der Wahl 1949, die Situation, dass der amtierende Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin nicht zur Wahl antritt. Scholz tritt aber an. Und die Leute werden wissen: Die Bundesregierung hat das gut gemacht. Die SPD hat, wenn ich an Kurzarbeitergeld und Familienhilfen denke, eine Menge dazu beigetragen, dass wir deutlich besser davor sind als die meisten anderen Länder. Deshalb glaube ich, dass unsere realen Aussichten viel besser sind als die Umfragewerte. Mir würde es nicht gefallen, wenn Olaf Scholz einen Wahlkampf als One-Man-Show machen würde. Das wird es aber auch nicht geben, denn damit haben wir keine guten Erfahrungen gemacht. Aber mit Olaf Scholz als Spielführer eines Teams von Männern und Frauen haben wir gar nicht so schlechte Aussichten. Olaf Scholz hat unlängst gesagt, die SPD werde die Wähler mit einem geschlossenen Auftreten überraschen.

    In der Vergangenheit hat ja das oft nicht gut geklappt. Ist er nicht naiv, da jetzt Besserung zu versprechen?

    Stegner: Nun, die Geschlossenheit bezieht sich natürlich nicht auf jedes der 430.000 Parteimitglieder und meint auch nicht Diskussionsstillstand. Aber ich glaube, die meisten haben begriffen, dass es unserer Verantwortung überhaupt nicht gerecht würde, wenn wir jetzt nicht geschlossen agieren. Die sozialdemokratischen Themen liegen auf der Straße: Arbeit, Frieden, handlungsfähiger Staat, sozialverträglicher ökologischer Umbau. Selbstkritik ist eine tolle Sache, aber sollte nicht grade in Wahlkampfzeiten ihren Höhepunkt erreichen. Die SPD braucht beide Flügel der Partei, sie braucht nicht nur das hanseatische, sondern auch andere Temperamente. Auch ich werde im Wahlkampf dazu meinen Beitrag leisten. Geschlossenheit ist eine Erfolgsvoraussetzung. Jeder, der ein bisschen Grips im Kopf hat, weiß das.

    Dennoch hat die SPD nun einen eher konservativen Kanzlerkandidaten auf der einen Seite und eine eher linke Parteiführung und ein eher linkes Parteiprogramm auf der anderen Seite. Das passt nicht zusammen.

    Stegner: Die SPD braucht eine gewisse Breite. Vögel fliegen nicht, wenn die Flügel nicht funktionieren. Wenn sie gut funktionieren, kann man auch weit und hoch fliegen. Es geht darum, mehrheitsfähig zu werden – möglichst in einer progressiven Koalition diesseits der Union. Die Wähler und auch die Parteimitglieder konzentrieren sich gerade sehr auf die Exekutive und auf die Fraktion, weniger auf die Partei. Es geht um die Gesamtaufstellung mit Partei, Fraktion und Regierung, die wir anbieten – mit jemandem an der Spitze, dem man zutraut, eine gute Figur im Kanzleramt zu machen.

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    Olaf Scholz hat Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Linkspartei geäußert. Demnach gäbe es diese „progressive Koalition“ ja gar nicht.

    Stegner: Er hat auch gesagt, dass er neben der Ampel eine solche Koalition für denkbar hält. Dass die Linkspartei Fragen zu ihrer Regierungsfähigkeit zu beantworten hat, versteht sich von selbst. Die Skepsis gegenüber einzelnen Personen in der Linkspartei hat nicht nur Olaf Scholz, die habe ich auch. Aber: Wir haben auch in anderen Parteien Dinge, die uns nicht gefallen. Denken Sie ein paar Monate zurück, was Konservative und Liberale in Thüringen veranstaltet haben. Absolute Mehrheiten gibt es heute kaum noch. Deshalb sind Zweier- oder Dreierkoalitionen nötig. Und da muss man mit den Parteien, mit denen man am meisten Gemeinsamkeiten hat, etwas hinkriegen. Ich glaube, das geht mit der Linkspartei und auch mit den Grünen. Es gibt nur eine Partei, mit der wir nichts machen dürfen und nichts machen wollen: das sind die Rechtsradikalen. Mit allen anderen muss man theoretisch etwas hinbekommen können.

    Wo steht die SPD in anderthalb Jahren?

    Stegner: Ich hoffe, sie hat bei der Bundestagswahl mehr als 20 Prozent bekommen – das ist das Minimum –, sie liegt vor den Grünen, wir führen klar das progressive Lager an und haben gemeinsam mit Grünen und Linkspartei eine Mehrheit, vielleicht sogar mit Grünen und FDP eine Alternative für eine andere Mehrheit. Das wäre eine komfortable Lage. Und wir hätten Gelegenheit, ein Reformprogramm für Deutschland zu formulieren. Eine progressive Regierung unter SPD-Führung und der HSV ist wieder in der Bundes­liga: Das ist meine positive Vision, wenn ich anderthalb Jahre vorausdenke.