Robert Habeck, Daniel Günther und Wolfgang Kubicki mischen Berlin auf. Drei Aufsteigergeschichten in Jamaika-Zeiten.
Wenn Annette Marberth-Kubicki wissen will, was ihr Ehemann gerade so macht, muss sie nur den Fernseher einschalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Wolfgang Kubicki dort in einer Talkshow oder Nachrichtensendung sieht, ist im Moment groß, sehr groß. Am späten Donnerstagabend war der FDP-Politiker erst wieder zu Gast bei Maybrit Illner im ZDF. Neben ihm saß wie selbstverständlich ein anderer Mann aus Schleswig-Holstein, der derzeit mindestens so oft um seine Meinung gefragt wird wie Kubicki: Robert Habeck von den Grünen. Eigentlich hat nur Daniel Günther (CDU) in der Runde gefehlt. Mit ihm wäre das erstaunlichste Politiker-Trio des Jahres perfekt gewesen.
Kubicki, Habeck, Günther. Jeder von ihnen kann eine Geschichte von tiefen Abgründen und schweren Niederlagen erzählen – und dann davon, dass heute alles ganz anders ist. Die drei Männer aus Kiel haben auf einmal in Berlin etwas zu sagen und sind dabei, bundesweit die Politik mitzubestimmen. Das hat natürlich damit zu tun, dass es in Schleswig-Holstein bereits die Koalition gibt, die in Berlin erst noch zustande kommen muss. Aber eben nicht nur: Kubicki, Habeck und Günther haben ihren Aufstieg beziehungsweise Wiederaufstieg nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass sie die Reise nach Jamaika schon hinter sich haben.
Politiker aus Schleswig-Holstein bundesweit gefragt
Es war ausgerechnet der ehemalige Ministerpräsident Torsten Albig, der früh im laufenden Jahr erkannte, wie groß der Einfluss von Spitzenpolitikern aus Schleswig-Holstein in Deutschland noch werden sollte. Wenn er sich auch in einem Punkt täuschte – aus damaliger Sicht verständlich, aus heutiger für ihn sehr ärgerlich. Albig sagte vor der Landtagswahl Anfang Mai in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt: „Es ist schon interessant, dass unser kleines Land mit Wolfgang Kubicki, Ralf Stegner, Robert Habeck und mir gleich vier Leute hat, die auch bundesweit gefragt sind. Interessanterweise ist keiner von der Union dabei, und das wird bis auf Weiteres auch so bleiben.“
Letzteres war ein fataler Irrtum, aber grundsätzlich hatte der SPD-Politiker recht. Denn spätestens seit der Bundestagswahl gibt es ein politisches Hoch im Norden. Was Schleswig-Holstein auch deshalb guttut, weil das Land schon so oft mit Skandalen und Skandälchen für Schlagzeilen gesorgt hat: von Uwe Barschel über den sogenannten Heide-Mörder (damit ist der SPD-Politiker gemeint, der die Wiederwahl von Ministerpräsidentin Heide Simonis verhindert hat) bis hin zur Lolita-Affäre des damaligen CDU-Spitzenkandidaten Christian von Boetticher.
Und jetzt das: Wolfgang Kubicki ist aktuell Bundestagsvizepräsident, könnte aber auch noch Minister oder Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag werden. Daniel Günther ist nicht nur neuer Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, sondern wird zu den wichtigen CDU-Köpfen für die Zeit nach Angela Merkel gezählt. Und Robert Habeck könnte einer der neuen Chefs der Grünen werden.
Anfang des Jahres dürfte keiner der drei Herren mit dieser Entwicklung seiner politischen Karriere gerechnet haben. Im Gegenteil: Zumindest Günther und Habeck sahen in den ersten Monaten 2017 wie Verlierer aus. Und dass Kubicki auf seine, Verzeihung, alten Tage doch noch für ein Ministeramt infrage kommen könnte, schloss er selbst im April noch aus: „Das ist nicht mein Beritt. Ich liebe erstens meine persönliche politische Freiheit, und zweitens gibt es nichts Schöneres, als im Parlament für die richtige Sache zu streiten.“
Was hat sich geändert, warum hat die Stimme der drei Schleswig-Holsteiner auf einmal weit über die Landesgrenzen hinaus ein solches Gewicht? Und was hat das mit den Abgründen zu tun, in die sie alle geblickt haben?
Kubicki war der beliebteste Kopf der FDP
Begeben wir uns auf Spurensuche und fangen bei Wolfgang Kubicki an. Seine Geschichte begann vor vier Jahren, genauer gesagt am 22. September 2013. Es war der schwärzeste Tag in der Geschichte der FDP, die bei der Bundestagswahl an der Fünfprozenthürde scheiterte. Es war aber auch der Beginn einer Männerfreundschaft.
In der Nacht vom 22. auf den 23. September traf der tief frustrierte Kubicki den deprimierten Christian Lindner an der Times Bar im Berliner Hotel Savoy. Man trank etwas, man rauchte Zigarren – und man schwor sich, die FDP gemeinsam in den nächsten vier Jahren wieder raus aus der außerparlamentarischen Opposition zu holen, zurück in den Bundestag. Als die beiden sich am 24. September dieses Jahres erneut an der Bar trafen, hatten sie mehr als das geschafft, was sie sich vorgenommen hatten. Die FDP könnte kurz nach ihrem Wiedereinzug ins Parlament sogar der Regierung angehören.
Kubickis Anteil an diesem Erfolg ist größer, als es die Fokussierung von FDP-Anhängern, -Wählern und Medien auf Christian Lindner vermuten lässt. Der Schleswig-Holsteiner war über die gesamte Strecke der liberalen Auferstehung der verlässlichste und der beliebteste Kopf seiner Partei. Kubicki hat wie wenige andere in der deutschen Politik die Fähigkeiten, Klartext zu sprechen und sich über andere Meinungen und Strömungen lustig zu machen, ohne dass ihm die Wähler das übel nehmen.
Er nannte Torsten Albig, den Ministerpräsidenten(!), einen „begnadeten Grabredner“, er verkündete, dass er sich selbst alles zutraue, „auch Kanzler“. Und als es bei Maybrit Illner am Donnerstag darum ging, dass Kinder fit gemacht werden müssten für die Berufswelt, war es natürlich Kubicki, der süffisant bemerkte: „Kinderarbeit ist bei uns verboten.“ Sein rhetorisches Ausnahmetalent war der Hauptgrund dafür, dass er auch Interview- und TV-Anfragen in jener Zeit bekam, in der ansonsten kaum jemand mit der FDP sprechen wollte.
Dass er nun Minister oder Fraktionsvorsitzender im Bundestag (falls Lindner in eine Jamaika-Regierung gehen sollte) werden könnte, krönt eine Laufbahn, die vor allem auf der unterhaltsamen Vermittlung von Politik beruht. Und die Kubicki erst in Schleswig-Holstein und dann im ganzen Land zu einem der bekanntesten Politiker werden ließ.
Robert Habeck ist der Anti-Politiker
Auch Robert Habecks Aufstieg hat viel mit der Art zu tun, wie er auftritt. Er lässt das ganze Getue und Gefloskel von Politikern genauso weg wie die an Grünen oft kritisierte Besserwisserei. Habeck, sagen Menschen, die mit ihm zu tun haben, beschäftigt sich nicht mit Ideologien, sondern mit der Wirklichkeit und der Frage, wie sich dort Probleme lösen lassen. Das hat ihm, dem grünen Landwirtschaftsminister, ausgerechnet in Schleswig-Holstein und ausgerechnet bei den eher konservativen Landwirten Respekt eingebracht.
Kommt hinzu, dass Habeck weder wie ein typisch deutscher Politiker aussieht noch so spricht. Das klingt dann wie bei Maybrit Illner, als es um das Thema Armut geht. „Wenn man mal einen Tag wie ich bei einer Tafel gearbeitet hat, dann sieht man diese Armut und stellt fest, dass die Leute nicht mit dir als Politiker reden wollen, weil sie sich schämen dafür. Und das, das geht nicht.“ Ja, ihm rutscht sogar einmal das Sch…-Wort raus – eine Stelle, an der selbst Kubicki kurz stutzt –, aber das stört ihn nicht. Das gehört zu Habecks Vorstellungen von einem authentischen Politiker.
Der Grüne, der auch Schriftsteller ist, hat mit seiner Art einen neuen Typus in die deutsche Politik eingeführt. Und er wollte auf einem anderen Weg dorthin kommen, wo er jetzt ist, nämlich in die Sondierungsgespräche über eine Regierung mit grüner Beteiligung. Es war vor zwei Jahren, als Habeck ankündigte, als Spitzenkandidat für seine Partei in den Bundestagswahlkampf ziehen zu wollen. Dafür war er bereit, alles aufzugeben, auch den Ministerposten in Schleswig-Holstein. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Habeck ging als Außenseiter ins Rennen gegen Cem Özdemir und erlebte die bitterste Niederlage seiner jungen Politikerkarriere. Am Ende fehlten 75 (!) Stimmen, Özdemir kam bei der Urwahl auf 35,96 Prozent, Habeck auf 35,74 Prozent.
Plötzlich schien für das wahrscheinlich größte Talent der Grünen alles vorbei zu sein. Die Spitzenkandidatur hatte er verloren, für den Landtag in Schleswig-Holstein kandidierte er nicht. „Ich musste mich zweimal schütteln“, sagte Habeck damals. Sein Glück war, dass die Grünen in Schleswig-Holstein auf ihn nicht verzichten wollten. Und dass mit seiner Hilfe im Norden das Unmögliche gelang: eine Jamaika-Koalition, heute das Vorbild für Berlin, mit dem Chef-Unterhändler und Vize-Ministerpräsidenten Robert Habeck. Der Mann ist wieder im Rennen.
Daniel Günther wurde immer unterschätzt
Wer glaubt, dass Habeck aufregende und ungewöhnliche Monate hinter sich hat, sollte sich zum Schluss noch Daniel Günthers Geschichte durchlesen. Daniel wer? Das war in Schleswig-Holstein und darüber hinaus die meistgestellte Fragen, als die Nord-CDU im Oktober 2016 überraschend ihren Spitzenkandidaten auswechselte.
Ursprünglich hatte Ingbert Liebing gegen den Ministerpräsidenten Torsten Albig antreten sollen. Aber Liebings Umfragewerte waren vermeintlich so schlecht, dass sich die CDU entschloss, wenige Monate vor der Landtagswahl einen neuen Mann zu nominieren. „Eigentlich kommt das viel zu früh für mich“, sagte Günther damals, und dass das nicht nur an seinem Alter liege. „Ich bin ja nicht nur jung, ich sehe leider auch noch jünger aus.“ Günther ist Jahrgang 1973, neben dem gestandenen Ministerpräsidenten wirkte er tatsächlich lange Zeit wie ein Zählkandidat.
Albig und die schleswig-holsteinische SPD unterschätzten den Kandidaten auf jeden Fall, und das kann man ihnen nicht einmal vorwerfen.
Denn es gehört, inzwischen müsste man vielleicht sagen: gehörte, zu den großen Vorteilen von Daniel Günther, dass man ihn unterschätzt, nicht ernst nimmt. Den Fehler sollen selbst Menschen in seiner eigenen Partei gemacht haben. Und so kam, was in Wahrheit niemand kommen sah. Albig verlor sich in einem fahrig und unentschlossen wirkenden Wahlkampf, inklusive unglücklichen „Bunte“-Interviews, während Günther unermüdlich durch Schleswig-Holstein fuhr, von Dorf zu Dorf, von Tür zu Tür. Die Leute, die er dabei traf, staunten, wie gut und lange der junge Mann zuhören konnte und wie wenig er sprach.
Manchen mochte das für einen Politiker, der Landeschef werden wollte, zu wenig gewesen sein. Aber am Ende war es der richtige Weg. Günther galt plötzlich als jemand, der ein Ohr für die Sorgen der Wähler hat. Und er setzte auf die richtigen Themen, allen voran auf die Frage, ob man in Schleswig-Holstein nicht zum Abitur nach neun Jahren zurückkehren sollte. Als es zum TV-Duell mit Albig kam, sah der auf einmal im wahrsten Sinne des Wortes alt aus. Günther gewann. Und legte gleich nach. Wie er es schaffte, FDP und Grüne nicht nur an einen Tisch, sondern auch in eine gemeinsame Regierung zu bringen, nötigte allen Beteiligten Respekt ab.
Günther bewundert Angela Merkel
Daniel wer? Die Frage hat sich erledigt, und man ahnt, dass Günthers Karriere gerade erst begonnen haben könnte. Der Ministerpräsident aus Eckernförde hat nie verschwiegen, dass er Bundeskanzlerin Angela Merkel bewundert und dass er sich viel von ihr abgeschaut hat – die strategische Ausrichtung seines Wahlkampfs spricht deutlich dafür. Die Stärken der Kanzlerin kombiniert er dabei aber mit einer zugewandten, bodenständigen Art. Günther bleibt auch als Landesvater leise, ist in der Sache selten scharf, aber meist konkret.
Dies und sein Alter, der Erfolg in Schleswig-Holstein und die ordentlich funktionierende Jamaika-Koalition machen ihn automatisch zu dem, als was er sich bei aller Bescheidenheit auch selbst sieht: einem Teil des CDU-Führungsnachwuchs für die Zeit ohne eine Kanzlerin und Vorsitzende Angela Merkel. Er sagt es so: „Wir sehen, dass sich – historisch untypisch – während einer CDU-Kanzlerschaft eine neue Riege von Ministerpräsidenten aufbaut, die zusammen mit vielen weiteren jüngeren Leuten in Regierungsverantwortung eine Fülle von Potenzial für eine Nach-Merkel-Ära garantieren.“
Günther, Habeck, Kubicki: Von Schleswig-Holstein lernen heißt siegen lernen.