. . . und kehrt im Fisch zu uns zurück. 226 Plastikdeckel fand Jennifer Timrott nach Stürmen am Strand. Wie die Plastik-Flut uns bedroht.
Schuld waren im Grunde „Christian“ und „Xaver“. Mit nie zuvor gemessenen Windgeschwindigkeiten von bis zu 191 Stundenkilometern auf Helgoland rasten die Herbststürme im Oktober und Dezember 2013 über den Norden. Menschen starben, Häuser wurden zerstört, Strandkörbe flogen durch die Luft, der Verkehr brach vielerorts zusammen. Als Jennifer Timrott, 45, nach dem Orkan auf der Hallig Hooge von ihrer Warft an den Sommerdeich ging, traute sie ihren Augen nicht. „Der Hügel war total bunt, alles war voller Plastikmüll, ich war wirklich schockiert.“ Es musste was passieren.
Zuvor war es bei der Journalistin wie bei vielen anderen auch. Jennifer Timrott hatte sich mit dem Thema Plastikmüll befasst und kannte die beängstigenden Zahlen und Fakten: Die Weltmeere sind bis hinunter in die 4500 Meter tiefen Tiefseegräben mit Abfällen verschmutzt. Schätzungen gehen von 270.000 Tonnen reinem Plastik aus, das in fünf gewaltigen Strudeln auf den Ozeanen treibt. Der größte Müllteppich, der „Great Pacific Garbage Patch“ im Nordpazifik, hat inzwischen die Fläche Mitteleuropas erreicht, er ist viermal so groß wie Deutschland.
Etwa 75 Prozent der bis zu zehn Millionen Tonnen Müll, die jährlich über Mülldeponien, wilde Müllkippen und Flüsse, durch die Fischwirtschaft, gedankenlose Touristen oder per illegaler Entsorgung von Schiffen ins Meer gelangen, besteht aus Kunststoff. 80 Prozent des Mülls kommt von Land. Hauptverursacher sind China, Indonesien, Vietnam und die Philippinen.
Auf jedem Quadratkilometer Meeresoberfläche treiben bis zu 18.000 Plastikteile unterschiedlicher Größe. Mehr als 70 Prozent der Abfälle bleiben unsichtbar, weil sie auf den Meeresboden sinken. Die Kunststoffe überdauern im Meer Hunderte von Jahren. Und sie zerfallen langsam zu Mikropartikeln, die auch in die Nahrungskette gelangen.
All das hat auch Jennifer Timrott, die mit ihrem Mann Frank vor vier Jahren auf die 134-Einwohner-Hallig gezogen ist und seit Kurzem in Friedrichstadt eine Galerie betreibt, beunruhigt. Und für das Thema sensibilisiert. „Aber dann habe ich festgestellt, es ist verdammt noch mal nicht so einfach, im Alltag auf Plastik zu verzichten.“ Es ist nahezu unmöglich. Was folgte, war „ein Moment der Beschämung“. Was blieb, waren viele gute Vorsätze – und ein schlechtes Gefühl bei jedem Joghurt-Einkauf im Supermarkt.
Bis „Christian“ und „Xaver“ kamen. Nach dem Sturm war es mit der Ruhe vorbei. Jennifer Timrott ist dem Problem im Wortsinn auf den Grund gegangen. Sie erzählt von ihrer „150-Schritte-Sammlung“. Was das bedeutet? „Ich bin 150 Schritte, also rund 100 Meter, am Strand gelaufen und habe dabei 226 bunte Deckel von Getränkeflaschen aufgesammelt.“
Sie hat Heringssalat-Behälter und Zahnbürsten gefunden. Kinder-Lippenstifte, Deoroller, Feuerzeuge, Nike-Turnschuhe. Eimer, Becher, Kanister, Netzreste. Arbeitshandschuhe, Kondome, Lebensmittelverpackungen, Schutzhelme. Große und kleine Plastikflaschen, große Fischkisten und kleine Plastikkrümel. Zahnpasta aus Russland, Margarine aus Belgien, Grippe-Tee aus China.
Plastikmüll in allen Farben und Formen. „Doch selbst wenn uns dieser Anblick von Plastikmüll am Strand manchmal beinahe erschlägt“, sagt sie, „macht das ja nur etwa 15 Prozent des gesamten Meermülls aus. Der Rest treibt im Wasser, und der größte Anteil liegt unsichtbar am Meeresboden.“
Sie hatte ganz viele Fragen: Woher kommt all dieser Müll? Wie lange schwimmt er schon im Meer? Wird er jemals wieder verschwinden? Was bedeutet es für die Meeresbewohner, wenn die Ozeane so massiv mit einem Material belastet sind, das die Menschheit erst seit ein paar Jahrzehnten in großem Umfang nutzt? Zum Vergleich: Wurden in den 1950er-Jahren circa 1,5 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert, sind es heute weltweit fast 300 Millionen Tonnen.
Zusammen mit dem Wachholtz Verlag entstand die Idee für ein Buch über „Strandgut aus Plastik“*. Jennifer Timrott sagt: „Meine Herangehensweise war das Fotografieren.“ Ihr Mann Frank sagt: „Andere sehen am Strand den Sonnenuntergang, du siehst die Deckel.“ Jennifer sagt: „Früher habe ich vielleicht noch um den Plastikmüll herumfotografiert.“
Polystyrol-Schaumstoffe haben eine Zerfallszeit von 50 Jahren
Damit ist nun Schluss. Es ging ihr aber nicht um eine besonders drastische Darstellung des Problems. Um tote Vögel mit Plastik im Magen oder in sogenannten Geisternetzen verfangene Schildkröten. „Da schauen die Leute eher weg.“ Sie wollte den Menschen ihre Fotos nicht „vor die Füße knallen“. Sie wollte auch der flatternden, schwarzen Plastikfolie und den wehenden, orangefarbenen Scheuerfäden „eine Art Ästhetik“ verschaffen. „Damit man sich die Bilder anschaut.“
Und damit sich der Leser dann über jedes einzelne „Strandgut“ informieren kann – und alles über seine Nutzungsart, die Fundhäufigkeit und die Nutzungsdauer erfährt. „Es ist ein Bestimmungsbuch geworden“, sagt Jennifer Timrott.
Sie hat das höchst problematische Strandgut in Gewerbe- und Verbrauchermüll, Mikro- und geschmolzenes Plastik sowie in Müll aus Freizeit, Spiel und Spaß unterteilt. Man erfährt, dass die in Imbissen und bei Feiern beliebten Nahrungsmittelbehälter aus Polystyrol-Schaumstoffen sind und eine Zerfallszeit von 50 Jahren haben – und dass die Stadt New York in diesem Jahr Wegwerfartikel aus diesem Material wegen der großen Umweltbelastung verboten hat.
In diesen Tagen und Wochen strömen die Menschen wieder an Nord- und Ostsee. Es wird wärmer, der Sommer steht vor der Tür. Und auch wenn in den größeren Orten die Sandabschnitte morgens regelmäßig unter großem finanziellen Aufwand vom Müll befreit werden, kommen aufmerksame Strandspaziergänger an dem Problem im Grunde nicht mehr vorbei.
Sie sehen zurückgelassene Sixpack-Ringe. „Meerestiere verfangen sich mit dem Kopf in den Ringen und können sich wegen der Stabilität des Kunststoffes kaum selbst daraus befreien“, schreibt Jennifer Timrott. Geschätzte Zerfallszeit: 400 Jahre.
Sie sehen „Coffee to go“-Becher. „Sie werden zunehmend zu einem Problem, das an der Küste nicht mehr zu übersehen ist“, schreibt die Autorin. Problematisch sei dabei nicht nur der Kunststoffdeckel, der meist aus Polystyrol besteht. „Viele dieser Becher, die von außen wie Pappbecher wirken, sind an der Innenwand mit Polyethylen beschichtet.“
Sie sehen farbige Gasfeuerzeuge. „Auf den pazifischen Midwayinseln wurden die Kadaver junger Albatrosse gefunden, die Feuerzeuge im Magen hatten“, schreibt Jennifer Timrott. „Wahrscheinlich hatten die Altvögel die Feuerzeuge mit Nahrung verwechselt und die Jungvögel damit gefüttert.“
Das Umweltbundesamt sagt, dass bislang 663 Arten von Lebewesen bekannt sind, die regelmäßig Kontakt mit Plastikabfällen haben. „Die Überbleibsel unserer Wegwerfgesellschaft“, so der Naturschutzbund Deutschland (Nabu), „kosten jedes Jahr bis zu 100.000 Meeressäuger und eine Million Meeresvögel das Leben. Die Tiere verhungern mit vollen Mägen, verfangen sich in alten Fischernetzen, ertrinken oder erleiden schwere Verletzungen bei Befreiungsversuchen.“
Bei den Zersetzungsprozessen werden gefährliche Inhaltsstoffe wie Bisphenol A, Phtalate oder Flammschutzmittel freigesetzt, die sich in der Nahrungskette anreichern. Kleine Plastikpartikel ziehen zudem im Meer gelöste Umweltgifte wie ein Magnet an – eine tödliche Mahlzeit für Muscheln oder Korallen. „Schädliche Auswirkungen auf den Menschen sind nicht auszuschließen.“
Der Nabu ruft regelmäßig zu Sammelaktionen auf und beteiligt sich am weltgrößten Reinigungstag im September, bei dem zuletzt eine halbe Million Menschen in mehr als 100 Ländern rund 3300 Tonnen Abfälle von Stränden, aus dem Meer und aus Flüssen gesammelt haben.
Die Koalition der Plastikgegner wächst. Der WWF (World Wildlife Fund) und Greenpeace geben Tipps für den Alltag. Vermeiden – von Plastikverpackungen, Plastiktüten und Wegwerfartikeln. Verzichten – auf Zahnpasta und Kosmetika mit Mikroplastik-Kügelchen. Trennen – von Müll, denn nur dann ist ein Recyceln von Abfällen überhaupt möglich.
Und sie nehmen die Politik in die Pflicht, die bereits 1988 mit dem MARPOL-Abkommen die Müllentsorgung auf dem Meer verboten hat. Fischer sollten entlohnt werden, wenn sie Meeresmüll an Land bringen. In allen Häfen sollten sämtliche Entsorgungsleistungen in den einmaligen Hafengebühren enthalten sein – und nicht nach abgegebenen Mengen berechnet werden.
Jennifer Timrott kämpft mit ihrem Bilder-Buch für ein gesteigertes Umweltbewusstsein. Und sie ist Gründungsmitglied und Vorsitzende des Vereins „Küste gegen Plastik“. Dieser fordert in einer Petition an den Kieler Landtag: „Schluss mit Plastiktüten im Land der Horizonte.“
Da ist man andernorts schon weiter. In Osnabrück legten die Klimabotschafter der Ursulaschule vor Kurzem eine aus 8000 Tüten geknüpfte Kette um die Bischöfliche Kanzlei. Ziel der Aktion: ein plastiktütenfreies Osnabrück bis zum Jahr 2017. Der Schirmherr, Bürgermeister Wolfgang Griesert, zeichnete vor Kurzem fünf plastiktütenfreie Geschäfte aus.
Auch im Ausland ist dem Plastikmüll längst der Kampf angesagt worden. In Wales und Irland sind nach Einführung einer Abgabe auf Plastiktüten deutlich weniger davon im Umlauf. In Ruanda oder Somalia sind Plastiktüten rigoros verboten.
Der Kunde könnte bewirken, dass weniger Plastik produziert wird
Jennifer Timrott setzt in erster Linie auf die Macht der Verbraucher. „Wir selbst sind es doch, die durch unser Kaufverhalten die Hersteller dazu bringen können, auf Plastik zu verzichten“, sagt Jennifer Timrott. Als Beispiel nennt sie die vegane Bewegung, die mittlerweile mit immer mehr Produkten und Regalen im Supermarkt berücksichtigt wird. „Das hat vor einem Jahr auch niemand für möglich gehalten.“
Sie stellt Andersmacher-Geschichten ins Netz, in denen Leute vorgestellt werden wie der Edeka-Händler aus St. Peter-Ording oder der Apotheker aus Bredstedt, die die Plastiktüten aus ihren Läden verbannt haben. Und dafür viel Lob von ihren Kunden erfahren.
Und sie möchte das Plastik entzaubern. Es als giftig und hochproblematisch enttarnen. Würden die Umweltfolgekosten eingerechnet, wären solche Kunststoffprodukte auch keinesfalls mehr so billig. Plastik, sagt Jennifer Timrott, müsse endlich seinen guten Ruf verlieren. „Die Plastikflut hat auch eine gesellschaftliche Dimension: Sie ist ein Leitsymptom unserer Art zu leben. Plastik ist bequem, es ist leicht, zeitsparend und einfach praktisch“, schreibt sie. „Wegwerfprodukte aus Plastik versprechen Entlastung und unkomplizierte, schnelle Lösungen.“
Dabei trügt der Schein. Spätestens beim nächsten Sturm kommen die Wegwerfprodukte in allen Farben und Formen wieder zum Verbraucher zurück.