Ein 132 Jahre alter Flügel ist der Star einer Konzertreihe in der Klosterscheune Uetersen. Das Instrument stand in den Salons der besseren Gesellschaft, in kleinen Zimmern und auf einem Dachboden.
Uetersen. Hinter den Mauern der ehemaligen Priörinnenscheune des adeligen Klosters Uetersen hat ein prominenter Gast Unterschlupf gefunden, der in den 132 Jahren seiner abenteuerlichen Existenz den Alltag einflussreicher Uetersener Familien hautnah mitbekam. Der mit seinen 84 Tasten und relativ kurzem Korpus vergleichsweise handliche Blüthner-Flügel, der seit 2007 im Mittelpunkt der Konzertreihe des Uetersener Klostervereins steht, überstand eine Odyssee von adligen und großbürgerlichen Salons über bescheidene Nachkriegszimmerchen und den Dachboden des Museums Langes Tannen, bis er in der extra für ihn gezimmerten, optimal klimatisierten „Flügelgarage“ in der Klosterscheune ein angemessenes Zuhause fand.
Sein Schutzpatron und Retter heißt Hans-Herbert Henningsen. Der Jurist und ehemalige Syndikus des Klosters Uetersen entdeckte den Flügel 2006 eher zufällig auf dem Dachboden besagter Museumsscheune. Nur mit Mühe erkannte er das elegante Instrument aus Kindheitstagen. Henningsen war im Kloster aufgewachsen, schon sein Vater Hans-Martin Henningsen hatte als Syndikus für das adelige Stift gewirkt. „Die Beine waren abgeschraubt, der Korpus stand hochkant“, sagt der 1928 geborene Henningsen.
Niemand schenkte dem ehemaligen Konzertstar noch Beachtung, am allerwenigsten die Stadt Uetersen, in deren Besitz das Instrument 2002 gelangt war. „Der Flügel war in einem denkbar schlechten Zustand“, sagt Henningsen. Der Jurist beschloss, dem Flügel zu altem Glanz zu verhelfen. Er klärte die Eigentumsverhältnisse und fragte beim damaligen Uetersener Bürgermeister Wolfgang Wiech an, ob er den Flügel in die Klosterscheune überführen dürfe. „Dann habe ich angefangen zu trommeln“, sagt Henningsen.
Gemeinsam mit seinem Freundeskreis stiftete er die rund 3500 Euro für die Restauration des Musikveteranen, kümmerte sich um die Details. Mit der Wiederbelebung des Flügels brachte er gleichzeitig neues, musikalisches Leben in die historische Scheune.
Ein Blüthner ist abseits der Fachwelt vielleicht nicht so bekannt wie ein Flügel der Marke Steinway oder Bechstein. Doch namhafte Komponisten wie Debussy und Wagner, Mahler, Liszt und Lloyd Webber besaßen und nutzten Instrumente aus dem 1854 in Leipzig von Klavierbauer Julius Ferdinand Blüthner begründeten Unternehmen.
Das 1882 gebaute Uetersener Modell gelangte 1902 in die Rosenstadt. Es war ein Geschenk zur Hochzeit von Hedwig von Rantzau mit Hanns Lange, Spross der vermögenden Uetersener Müllerfamilie, deren ehemaliges Herrenhaus – Langes Tannen – heute das gleichnamige Museum beherbergt. Oberst Lange starb im Ersten Weltkrieg. Seine Witwe Hedwig zog mit Tochter Ingeborg – und dem Blüthner – wieder in eine der Klosterwohnungen. Ingeborg Lange heiratete später ebenfalls einen Offizier. Oberst Kurt Hermann befehligte im Zweiten Weltkrieg den Angriff auf Narvik. Nach dem Krieg floh er nach Südamerika. Der Flügel blieb im Kloster. Genutzt wurde er inzwischen von der Tochter der Hermanns, die sie ebenfalls Ingeborg nannten. Mit ihr spielte der etwa gleichaltrige Syndikus-Sohn Hans-Herbert Henningsen im Sandkasten.
Doch die Hermanns verkauften das Instrument an die Uetersener Kaufmannsdynastie Guerle. Der Flügel zog um in die Patriziervilla, zu den vier Guerle-Töchtern. Nur eine von ihnen heiratete und bekam einen Sohn, Hans-Jürgen Nohtse. Dessen Interesse galt zwar allem anderen als der Musik, aber trotzdem spielte er eine wichtige Rolle für das Schicksal des Blüthners. Denn er heiratete eine Frau, die das Uetersener Musikleben bis zu ihrem Tod 2002 prägen sollte und den Flügel vielleicht stärker nutzte als alle Vorbesitzer – die langjährige Kantorin der Klosterkirche, Hans-Jürgens Gattin Christa Nohtse.
„Hans-Jürgen wohnte als kleiner Junge Anfang der 30er-Jahre zunächst mit seinem Vater in Berlin“, sagt Henningsens Ehefrau Waltraut. Seine Mutter, die einzige verheiratete Guerle-Tochter, sei lungenkrank gewesen und habe deshalb überwiegend auf Sizilien gelebt. Deshalb kümmerten sich seine drei Tanten um seine Erziehung. Der Kleine kam in die Uetersener Guerle-Villa. Den Flügel spielte dort vor allem seine Tante Käthe.
Sie war es auch, die Christa Nohtse das Instrument schenkte. „Damals gab es in Uetersen ziemliche Widerstände gegen Christa Nohtse“, sagt Henningsen junior. „Weil sie noch sehr jung und eine Frau war.“ Alles andere als ein Mann an der Orgel hätten viele Bürger damals undenkbar gefunden.
Noch vor der Hochzeit zog der Flügel erneut um, in den ehemaligen Konfirmandensaal des Pastorats, den Christa Nohtse und ihre Mutter als Notwohnung nutzen durften.
Unter Christa Nohtses Händen spielte das Instrument eine prominente Rolle im Uetersener Musikleben. „Der stand in einem winzigen Zimmer in Frau Nohtses Wohnung, dort haben wir gemeinsam kleine Kantaten geübt und 1966 für das Weihnachtsoratorium geprobt“, sagt Reinhard Sziegoleit. Er sang damals als Tenor in der Kantorei.
Als Christa Nohtse 2002 starb, vermachten ihre Söhne den Flügel der Stadt. Die ließ ihn zunächst in der renovierten Scheune des Museums Langes Tannen aufstellen. Schließlich landete er auf dem Dachboden. Und da entdeckte und rettete ihn Henningsen junior.
Wer den Flügel einmal in Aktion erleben möchte: Am 28. September gibt die Elmshorner Chanteuse Anna Haentjens in der Klosterscheune ein Konzert.