Wedel. Das Kunstmuseum widmet sich den impulsiven Expressiven der Berliner Künstlerszene in den 80er-Jahren. Was Besucher erwartet.

Ein einmaliges weltpolitisches Experiment – nichts Geringeres war Berlin in den drei turbulenten Jahrzehnten zwischen Mauerbau und Wende. Doch nicht allein die Möglichkeit einer Insel mitten auf dem deutschen Festland war völlig abstrus, sondern auch ein großer Teil der damaligen Bevölkerung Berlins. Von „Studenten, Alternativen, Punks und Freaks aller Art, Unangepassten eben“, spricht der Museumsdirektor und Vorsitzende der Ernst Barlach Gesellschaft, Jürgen Doppelstein, in dem Zusammenhang.

Ernst Barlach Museums: Die Jungen Wilden wollen sich ausdrücken

An das einmalige künstlerische Schaffen dieser „Jungen Wilden“ im Berlin der 80er-Jahre möchte er mit einer gleichnamigen Ausstellung im Ernst Barlach Kunstmuseum Wedel erinnern. Vom 23. Oktober an und planmäßig bis zum 26. März 2023 können in den Räumlichkeiten unter anderen Werke von Rainer Fetting, Christa Dichgans und A. R. Penck begutachte werden. Sie stammen aus dem Besitz der kunstaffinen Berliner Volksbank sowie privaten Sammlungen.

Wer damals Teil der pulsierenden Metropole Berlin sein wollte, dem blieb kaum etwas anderes übrig, als über die Transitstrecke durch die DDR einzureisen und sich zwischen Trabbi-Abgasen und Plattenbauten hindurch gen Sehnsuchtsort zu manövrieren. Doppelstein, der selbst zwischen 1982 und 1988 in Westberlin gelebt und gearbeitet hat, kann von jener Zeit und Stadt der Ambivalenzen nur schwärmen: „,Das ist das Paradies‘, dachte ich mir damals.“ Waren doch die Köpfe der Künstler so frei, gerade weil man die Stadt gänzlich eingefriedet hatte. Mit restaurierten Super-8-Vogelperspektive-Aufnahmen Berlins begrüßt die Ausstellung seine Gäste, damit sie das Zeitkolorit zu fassen bekommen, bevor ihr Blick über die Leinwände schweifen kann.

Wedel: Barlach Museum zeigt Werke der Berliner Künstlerszene

Die sind bunt, laut, doll. Sie zeigen kantige Großstadtbauten, Kneipenszenen aus Szenekneipen oder die grotesk verzerrten Visagen des Bürgertums. Sie zeigen, was wirklich war. Wie sich die junge Künstlergilde „aus der grauen, tristen Mauerstadt herausträumte und zugleich damit konfrontierte“, beschreibt Doppelstein. Da er in den 80ern an der legendären „Zeitgeist“-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau mitgewirkt hat – sein persönlicher Einstieg in das Ausstellungs- und Museumswesen im Übrigen –, konnte er einige jener schrägen Revoluzzer-Typen sogar persönlich kennenlernen.

Anders als in der vorangegangenen Schaffensphase der älteren Semester ging es den in Wedel ausgestellten Künstlern, die damals allesamt maximal Mitte 20 waren, nicht mehr darum, wie minimalistisch, karg oder intellektuell ein Werk sein kann. Daher ist das Gros der Werke im Ernst Barlach Kunstmuseum auch sehr bildlich.

In Wedel zu sehen: Helmut   Middendorfs abstrakte Komposition eines Porträts mit Aktdarstellung.
In Wedel zu sehen: Helmut   Middendorfs abstrakte Komposition eines Porträts mit Aktdarstellung. © PeterAdamik.de | PeterAdamik.de

Völlige Abstraktion entsprach einfach nicht dem Zeitgeist der Jungen Wilden. Die Expressivität und Heftigkeit, die den Künstlern eigen war, verkörpern die Werke Rainer Fettings besonders beispielhaft. „Fetting ist für mich persönlich der Star der Ausstellung“, kommentiert der Kulturwissenschaftler dessen revolutionäre Herangehensweise an die Malerei, sein emotional überladenes Schaffen.

Wedel: Krisen hinterlassen Spuren auch in der Kunst

„Bisschen tanzen, bisschen schwofen, bisschen hier, bisschen da“, sagt Doppelstein, darum sei es in der Mauerstadt viel gegangen in den 80ern – die Clubkultur, die Kneipen, Punk und New Wave. Zeitgleich hätte der Wirbel um die Tausenden Hausbesetzer die Stadt fast zerrissen. Und klar, die Krisen der Zeit hinterließen ebenfalls ihre Spuren in der Kunst. Wenige gab es nicht davon: Waldsterben und saurer Regen, Aids, der Kalte Krieg samt nuklearer Abschreckung. Die Jungen Wilden hätten ihr Leben daher als „Tanz auf dem Vulkan“ begriffen, so Doppelstein. Als gegenwartsverloren, denn „wer weiß, was morgen ist?“, meint er.

Tja, wer weiß das schon? Interessanterweise sind die derzeitigen Krisen gut vergleichbar mit jenen der 80er: Globale Erwärmung, Pandemie, Russlands Krieg. Nur Junge Wilde, die gibt es nicht mehr im gleichen Ausmaß, so der Eindruck. „Heute sind die Probleme viel zu gigantisch. Wir hängen wie in einer Warteschleife“, versucht sich Doppelstein an einer Begründung. „Ich denke, wir leben heute abwechseln zwischen Weltuntergangsstimmung und dem eher individuellen, kleinen Glück.“

Wedel: Schleichendes Aus des Wilden und Anarchistischen

Allerdings, so der Museumsdirektor, hat Berlin sein junges, wildes Image noch nicht ganz verloren: „Die Stadt war in den 20ern schon so und ist heute noch so. Berlin hat einen ganz speziellen Spirit, einen Humus, einen Nährboden, auf dem besondere Charaktere gedeihen können.“ Auch nach jener Zeitepoche, der sich das Ernst Barlach Kunstmuseum Wedel in den kommenden Monaten widmet, nämlich nach der Wiedervereinigung, sei die Kunst in der Bundeshauptstadt noch „total freakig“ gewesen.

Nicht mit einem harten Bruch, sondern nur schleichend sei diese Zeit vorübergegangen, sei vieles langweiliger und verwalteter geworden. Inklusive der Clubszene, sagt Doppelstein: „Was vorher wild und anarchistisch war, kostete plötzlich Eintritt.“

Was wiederum keinen Eintritt kostet, ist die Vernissage der Wedeler Ausstellung. Welchen Schluss Kunstinteressierte dar­aus ziehen, bleibt ihnen überlassen. Zur Eröffnung der „Jungen Wilden“ am Sonntag, 23. Oktober, von 12 Uhr an sind alle herzlich in das nunmehr Ernst Barlach Kunstmuseum Wedel heißende ehemalige Ernst Barlach Museum eingeladen. Der Grund für die Namensänderung? Die Kulturstätte öffnet sich seit einigen Jahren für Kunst abseits des Namensgebers. Dessen Werke und Schaffen sind jedoch weiterhin am zweiten Museumsstandort der Ernst Barlach Gesellschaft in Ratzeburg der Öffentlichkeit zugänglich.

Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 11 bis 18.00 Uhr; Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 8 Euro; Adresse: Mühlenstraße 1 in Wedel