Wedel. Vor 45 Jahren tobt Sturm “Capella“ über dem Norden. Bei Wedel brechen die Deiche an neun Stellen. Zeitzeugen erinnern sich.

Nebelschwaden hängen über den Wiesen der Wedeler Marsch, das Theaterschiff „Batavia“ schaukelt sanft hin und her. Am Himmel hängen dunkle Wolken, es ist feucht-kalt. Ein ungemütlicher Wintervormittag. Rentner Volquard Broders blickt in die Ferne, über die Wiesen hinweg. Es ist fast auf den Tag genau 45 Jahre her, dass er an derselben Stelle steht. An dem Tag, an dem die große Sturmflut über den Norden hereinbricht, auch über Hamburg und das Umland. An dem die Deiche brechen, an dem sich Fluten ihren Weg bahnen durch die Marsch, in die Dörfer hinein und bis in die Straßen Wedels. Dort lebt Broders. Er läuft mit seiner Kamera umher. Sein Wohnhaus liegt weiter landeinwärts, bleibt verschont. „Morgens sind wir schon vom Wind geweckt worden“, berichtet der 79-Jährige heute. „Ich hatte ein ungutes Gefühl.“

Das soll sich bestätigen: Mit einer Windgeschwindigkeit von 150 Kilometern pro Stunde erreicht der Orkan am 3. Januar 1976 die deutsche Nordseeküste, bis zu 17 Meter hoch sind die Wellen. Im Hamburger Hafen wird mit 6,45 Meter über dem normalen Hochwasser der höchste Pegelstand seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen. Allein zwischen Hetlingen und Holm im Kreis Pinneberg bricht der Deich an neun Stellen.

Helfer füllen 200.000 Sandsäcke

„Nach dem Mittagessen hielt ich es zu Hause nicht mehr aus, schnappte mir den Fotoapparat und lief zur Stockbrücke“, erzählt Broders heute. Was er damals sieht: Das Wasser steht auf der Straße und strömt über den kleinen Sommerdeich nach Westen in die Marschwiesen. Langsam, aber unaufhaltsam steigt es die Straßen der Stadt hoch. Der Wedeler Hafen steht schon unter Wasser, die Terrasse des Schulauer Fährhauses ist nicht mehr zu erkennen. „Am Hafen war die Straße so überflutet, dass ich nicht mehr weiterkam“, sagt Broders.

Fast 200.000 Sandsäcke werden gefüllt und gestapelt, um die Wassermassen aufzuhalten. „Der Kreis Pinneberg hat das schlimmste Wochenende seiner Geschichte hinter sich“, schreibt das Hamburger Abendblatt. 86 Menschen sind in Hetlingen eingeschlossen, müssen in die Obergeschosse ihrer Häuser oder in die höher gelegene Grundschule flüchten.

Feuerwehrmann versenkt Löschfahrzeug

Auch Feuerwehrmann Uwe Denker aus Holm, 24 Jahre alt, ist draußen. „Um 9.45 Uhr wurden wir alarmiert, da hatte es bereits die ganze Nacht gestürmt“, sagt er heute. Erst mal sollen sie nur die Sturmschäden beseitigen. Um zwölf am Mittag wird Katastrophenschutzalarm ausgelöst. Die Feuerwehrleute fahren nach Hetlingen, um Menschen zu retten, bevor der Deich bricht. „Die wenigsten Leute wollten mit“, sagt der heute 69 Jahre alte ehemalige Werkzeugmachermeister. Dann bricht der Deich. „Da hatten wir schon Angst.“ Der Rückweg nach Holm ist abgeschnitten. Sie schaffen es noch bis zur Hetlinger Sammelstelle, sollen in der Schule schlafen. Der Strom ist ausgefallen. Denkers Onkel, auch bei der Feuerwehr, hat zum Glück einen Generator mitgenommen.

Als Uwe Denker und sein Onkel später noch mal losfahren, bleibt ein Rad des Wagens in einem der offenen Gullys stecken. Sie müssen aussteigen und den gesamten Weg bis zur Schule zu Fuß durchs Wasser waten. „Ich habe also ein Feuerwehrauto versenkt“, sagt der gebürtige Holmer mit einem Schmunzeln, denn vom Wagen ist bald nur noch wenig zu sehen. In einem Sturmboot der Bundeswehr kommen sie am nächsten Morgen zurück nach Holm.

100 Schiffswracks im Yachthafen

„Schäden schlimmer und größer als nach der letzten großen Flut 1962, meldet Wedel“, steht im Hamburger Abendblatt, „im Hamburger Yachthafen türmen sich rund 100 Schiffwracks, die Anlagen am Schulauer Hafen stehen nur noch zu 50 Prozent.“ In Wedel sind 20 Menschen obdachlos geworden, ihre Wohnungen völlig zerstört. Der neue, große Deich zwischen Scholenfleth und Wedel ist nicht, wie geplant, noch im Jahr zuvor fertig geworden.

„Das Wasser war schnell da, und es zerstörte vieles, aber es war auch ziemlich schnell wieder weg“, erinnert sich Jürgen Westphal. Der heute 93-Jährige ist damals Kreisvorsitzender der Pinneberger CDU und schleswig-holsteinischer Wirtschafts- und Verkehrsminister. Die Flut von 1962 sei präsenter in den Köpfen der Menschen. „Da gab es 300 Todesopfer, in Wilhelmsburg und Waltershof wurden viele Menschen im Schlaf überrascht und ertranken.“ 1976 stirbt niemand – zumindest nicht an Land.

Elf Matrosen ertrinken in der Nordsee

Der Orkan trifft auch das Küstenmotorschiff „Capella“ aus Rostock, das auf der Nordsee unterwegs ist. Es schlägt Leck, Reparatur und Rettung auf die Insel Borkum missglücken. Die elf Besatzungsmitglieder bezahlen mit ihrem Leben. Um an das Unglück zu erinnern, wird der Orkan später nach dem Schiff benannt.

Ernst-Gerhardt Scholz aus Elmshorn ist damals Reporter bei einer Lokalzeitung, das Ereignis ist spektakulär für ihn. „Ich habe auf die Sturmflut gewartet", sagt der heute 84 Jahre alte ehemalige Abendblatt-Redakteur. Schon vorher hat er den Wetterbericht verfolgt, hat geahnt, dass so etwas wie die große Flut passieren werde. Als er merkt, dass der Wind nicht an Kraft nachlässt, fährt er zum Deich, um Bilder zu machen. „Das Wasser stand schon so hoch unter der Kante“, sagt Scholz und misst mit seinen Händen 20 Zentimeter ab. Mit seinem kleinen Sohn steht er auf der Geest, als der Deich bricht. Um besser fotografieren zu können, tritt er ganz nah an den Rand. „Dann haben die Feuerwehrmänner gerufen, ich solle zurückkommen.“ Die an diesem Tag entstandenen Aufnahmen sind Zeugnisse, die in den kommenden Jahrzehnten immer wieder im Zusammenhang mit der 76er-Sturmflut gezeigt werden.

Deichbau hat die Landschaft verändert

Die Angst vor Fluten hat die Landschaft verändert. Durch den Bau von Landesschutzdeichen in der Haseldorfer Marsch haben sich seit den 70er-Jahren die Wasserverhältnisse in diesem Gebiet verändert. Große Teile der ehemaligen Flusslandschaft unterstehen nicht mehr der Tide, neue Lebensräume für Flora und Fauna sind entstanden. Insbesondere viele Vogelarten wie der Eisvogel oder der Kiebitz haben hier ihr Zuhause gefunden. Heute ist die Region Naturschutzgebiet.

Wie viele Menschen in der Region hofft auch Hobbyfotograf Volquard Broders, dass die Deiche und Schleusen heutzutage einer Sturmflut trotzen würden. Die Wolkendecke über der Wedeler Marsch bleibt an diesem grauen Vormittag geschlossen, dann kommt das Wasser – von oben.