Tornesch. Im Jahrgang 1998 gehört Alina Ammann aus Tornesch zur Weltspitze des 800-Meter-Laufs. Olympia 2020 in Tokio ist ein realistisches Ziel

„Esingen? Das liegt irgendwo in Bayern, da gibt es schließlich viele Orte mit -ingen“, meinte Kult­reporter Wolf-Dieter Poschmann, als er Alina Ammann, Mitglied beim TuS Esingen, zum ersten Mal laufen sah. Der Leichtathletikexperte des ZDF wusste das Talent aus dem Kreis Pinneberg offenbar noch nicht einzuordnen. Doch im 800-Meter-Endlauf der Deutschen Leichtathletikmeisterschaften in Kassel (Juni 2016) bewies Ammann, dass mit ihr zu rechnen ist: Die jüngste Teilnehmerin erreichte den vierten Platz, die Gewinnerin des Finals war nicht nur zwei Sekunden schneller, sondern auch vier Jahre älter als die Schülerin aus Tornesch. Im Jahrgang 1998 war 2016 weltweit nur eine Italienerin schneller als die Ammann.

„Alina ist definitiv eine der größten Hoffnungen auf den 800 Metern, die wir derzeit in Deutschland haben“, sagt der Bundestrainer Thomas Dreißigacker. Welches Potenzial in der 19 Jahre alten Schülerin steckt, weiß aber niemand genauer als Michael Ammann. Alinas Vater ist gleichzeitig ihr Trainer – eine Konstellation, die beide als großen Vorteil ansehen: „Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen“, sagt die Tochter. Das Klischee des überehrgeizigen, aggressiven Vaters sei in ihrem Fall nicht zutreffend. „Der große Vorteil ist, dass ich Alinas kompletten Rhythmus kenne. Wenn sie in der Schule gerade mehr Stress hat, machen wir im Training eben ein bisschen weniger oder auch mal gar nichts“, so der Papa.

Gemeinsam bestreitet das Familienduo einen Trainingsweg, der für den Leistungssport höchst untypisch ist: Während ihre Kontrahentinnen jede Woche bis zu zwölf Trainingseinheiten absolvieren, reichen den Ammanns sechs. „Mehr Training bedeutet nicht gleich bessere Ausdauer“, sagt Michael Ammann, der vor Überlastung warnt. Die Fitnesswerte, die bei einem Laktattest regelmäßig erhoben werden, geben ihm bislang Recht. „Alina ruft regelmäßig sehr gute Werte ab, und das mit relativ wenig Aufwand. Für die großen Schritte, die sie im Training macht, brauchen andere länger“, so Dreißigacker.

In seiner Trainingsgestaltung hat Michael Ammann zwei Grundprin­zipien. Erstens: All you need is speed. Zweitens: Rumpf ist Trumpf. Um die Schnelligkeit zu verbessern, ist Intervalltraining ein beliebtes Mittel, für eine gute Athletik breitet er gerne die Koordinationsleiter aus.

Die 800 Meter werden mit dem Kopf entschieden

Neben den Sporteinheiten besucht Alina Ammann das Uetersener Ludwig-Meyn-Gymnasium, an dem sie in diesem Jahr ihr Abitur macht. Auf einem speziellen Lauf-Internat ist sie nie gewesen: „Mit zwölf Jahren wollte ich das gerne, da hatte ich mir das so schön wie in der Fernsehserie ,Schloss Einstein‘ ausgemalt.“ Doch die Eltern sagten Nein. Vor Beginn der Oberstufe schlugen sie dann ihrer Tochter einen Wechsel vor – doch nun lehnte diese ab: „Ich wollte Papa als Trainer auf keinen Fall verlieren. Er kennt mich gut, weiß, was ich brauche. In einem Sportinternat wäre ich eine von vielen, bei dem Gedanken daran habe ich mich nicht sicher gefühlt.“

Nach der Schule möchte Alina Ammann Psychologie studieren. Das Fachgebiet interessiert sie, schließlich spielt es für den Erfolg in ihren Wettkämpfen eine entscheidende Rolle: „Die 800 Meter sind die Strecke, die man am meisten mit dem Kopf läuft“, sagt die Leichtathletin. Gerade die letzten 200 Meter würden meist mental entschieden. „Nach 600 Metern versuche ich, innerlich den Schalter umzulegen und gegen meine körperliche Erschöpfung anzulaufen.“

Dass Alina Ammann der Laufsport liegt, hat sie mit neun Jahren entdeckt; den Tornescher Stadtwerkelauf entschied sie ohne gezielte Vorbereitung für sich. „In den Leistungssport ist sie reingerutscht – ist gestartet und hat gewonnen“, meint Michael Ammann lakonisch. Inzwischen hält seine Tochter auf ihrer Paradestrecke von der Schülerinnen- bis zur Frauenklasse alle Landesrekorde.

Den Traum von Olympia hat ein Familienurlaub in Barcelona entfacht; ein spontaner Besuch im Olympia­stadion ist „schuld“: „Wir standen auf der Laufbahn und haben auf die Tribünenränge geguckt. Für mich war das ein sehr bewegender Moment“, sagt Alina Ammann. Hinterher habe sie zu ihrer Familie gesagt, „bei so etwas will ich auch mal mitlaufen.“

Aus diesem Traum ist längst ein realistisches Ziel geworden, das mit Tokio 2020 eine konkrete, zeitliche Ausrichtung hat. Mit 22 Jahren ist die Athletin dann im besten Alter. Die Normzeit für die Sommerspiele liegt bei 2:01,5 Minuten; Alina Ammanns momentane Bestzeit beträgt 2:03,04 Minuten. „Wir sind erst in der Aufbauphase, und trotzdem ist Alina nur noch wenige Sekunden von der Weltspitze entfernt“, weiß Michael Ammann.

Nach dem Lauf: Tochter Alina analysiert sofort mit Vater Michael ihr Rennen
Nach dem Lauf: Tochter Alina analysiert sofort mit Vater Michael ihr Rennen © HA | Privat

Auch wenn die Entwicklung der jungen Athletin bemerkenswert ist – in der Vergangenheit lief nicht alles rund: Im letzten Jahr hatte sie drei Mal eine Mandelentzündung. Dennoch startete sie im Juni bei der U-20-WM in Polen, eine Woche nach der Einnahme von Antibiotika. Den Endlauf verpasste sie, danach pausierte sie für zwei Monate.

Der Wunsch des Vater-Tochter-Gespanns für 2017 ist daher, gesund durchtrainieren zu können. Das Wichtigste aber – unabhängig vom Erfolg – soll die Freude am Sport bleiben. „Ich habe immer zu Alina gesagt: Wenn Du mal keine Lust mehr auf dieses Hardcore-Programm hast, brauchst Du Dich nicht zu rechtfertigen. Mein Seelenheil ist davon nicht abhängig“, sagt Michael Ammann, der beim TuS Esingen mit zwei weiteren Trainern 150 Leichtathleten betreut.