Kreis Pinneberg. Abendblatt-Kolumnist Oliver Lück hat viel zu erzählen – beispielsweise über einzigartige Formulierungen aus deutschen Amtsstuben.
Das raumübergreifende Großgrün in Steueroasen, Teil I
Ich habe neulich mal wieder ein paar Anträge ausfüllen müssen. Eigentlich gar nicht so schön. Aber trotzdem an dieser Stelle mal: Danke, Deutschland, für deine einzigartigen Formulierungen: „Der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten stützt sich auch auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO und umfasst deshalb auch die Frage einer eventuellen einfachgesetzlich begründeten steuerlichen Berücksichtigung.“ Und ich möchte ehrlich sein: „Frage“ war das einzige Wort, das ich vorher schon mal gehört hatte.
Viel zu lange Sätze mit bis zu 50 Wörtern, dazu Fremd- und Fachwörter ohne Erklärung: So spricht der Staat mit seinen BürgerInnen. Das Resultat: Ich verstehe nicht, worum es geht. Denn meist steht die eigentliche Information am Ende des Satzes. Bis man aber an der wichtigsten Stelle ist, hat man den Anfang schon wieder vergessen. Doch manche Menschen auf den Ämtern machen das ja auch, damit der Empfänger den Satz oder den Brief bis zum Ende liest. Sie denken, das hilft. Stimmt aber nicht! Das Einzige, was fast immer hilft, ist es, Fragen zu stellen. Am besten denen, die diese verursacht haben. Entschuldigen Sie, aber muss man denn wirklich „raumübergreifendes Großgrün“ schreiben? Reicht nicht einfach nur „Baum“!?
Also suche ich zunächst nach Erklärungen, dann nach Synonymen für mir unbekannte Wörter. Wenn das nicht klappt, habe ich meinen eigenen Weg gefunden, das Amtsdeutsch zu verstehen: Bei Verständnisproblemen und Unsicherheiten suche ich den direkten Kontakt zu den Behörden. Ich rufe die Sachbearbeiter an und fasse den Inhalt des Briefes in meinen eigenen Worten zusammen. Wenn ich etwas falsch verstanden habe, was immer der Fall ist, korrigiert mich der Mann oder die Frau vom Staat. Das hilft!
In diesem Zusammenhang auch interessant: Wörter, die keine Wörter mehr sind, sondern Kurzgeschichten. Stichwort: das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz. Erklärung: ein Gesetz, das regeln soll, wie die Gesundheitsversorgung verbessert werden könnte. Und dann stolperte ich in einem meiner Anträge doch tatsächlich über die wirklich schöne Wortverbindung „Anlage zu Steueroasen“. Und dann rief ich natürlich sofort die Sachbearbeiterin an. Doch darüber nächste Woche mehr.
Steueroasen, Teil II: Spaß kann so einfach sein
Ich hatte ja eine Fortsetzung versprochen. Also, bitte schön: Letzte Woche schrieb ich an dieser Stelle von „Vorläufigkeitsvermerken“ und „raumübergreifendem Großgrün“. Ich erzählte von viel zu langen Sätzen, die in behördlichen Mitteilungen stehen und von Fremd- und Fachwörtern, die für verworrenste Verwirrungen sorgen und einzig dafür da sind, dass man das Geschriebene auf gar keinen Fall verstehen kann, egal, wie sehr man sich auch bemüht.
Und ja, ich wusste natürlich, dass auch Sie wussten, was ich meinte, weil wirklich jede und jeder diese Erfahrungen schon gemacht hat, weil jeder schon mal einen Antrag für irgendwas ausfüllen musste oder ein Schreiben vom Finanzamt bekam. Wobei, viele Menschen fordern die ihnen zustehenden Sozialleistungen gar nicht ein. Es ist zu kompliziert. Briefe vom Amt sind eine Zumutung. Warum spricht der Staat so mit seinen BürgerInnen?
Schon deshalb habe ich es mir in den letzten Jahren (die Coronazeit hat mir da sehr geholfen) zu eigen gemacht, bei Verständnisproblemen und Unsicherheiten den direkten Kontakt zu den Behörden zu suchen. Ich rufe den oder die Sachbearbeiterin an. Und meistens hilft das. Und oft ist es sogar lustig. Wie neulich, als ich in einem Antrag über die schöne Wortverbindung „Anlage zu Steueroasen“ stolperte und sofort den Hörer zur Hand nahm. Denn Menschen sollten verstehen, was der Staat von ihnen will, sonst wenden sie sich ab.
Also, heute mal Klartext: Wo ist diese Oase? Ich stellte mir einen Ort vor, wo man von der Steuer Urlaub machen könnte. Ist vielleicht eine Hotel-Anlage gemeint? Könnten Sie mir da, bitte, weiterhelfen? Die Frau vom Amt: „Das darf ich nicht.“. Ich: „Warum nicht?“ Sie: „Weil Sie sonst vielleicht Ihr Geld dort … nein, ich darf jetzt nicht weiterreden.“ Ich: „Meinen Sie die Schweiz?“. Sie: „Vielleicht.“ Ich: „Dort war ich schon ein paar Mal.“ Sie: „Ich auch.“ Ich: „Dort ist aber alles so teuer. Ist nicht wirklich eine Oase für Geld, oder?“ Und sie wieder: „Nein, da haben Sie recht!“ Ich: „Aber Spaß ist einfach!“ Und sie zum Abschluss (lacht): „Ja, danke schön, das hat wirklich Spaß gemacht.“ Ich: „Finde ich auch, auf Wiederhören!“ dieser Stelle …
Loch auf dem Teller
Ich habe Andrea kennengelernt. Sie hat Gemüse auf extrem wenig Platz mitten in der Stadt gepflanzt. Ihre Idee: Zurück zu den Wurzeln, aber mit Blick in die Zukunft. Die 35-Jährige nennt sich Erlebnisdesignerin. Sie veranstaltet „Abende der kulinarischen Zukünfte“. Sie will die Ernährung von Morgen erlebbar machen. Also hinterfragt sie Essgewohnheiten und durchbricht gängige Muster.
Also hat sie das Schlachten gelernt. Von ihr stammt die Installation „SCHWEIN#1738“: Sie hat das Tier von den Augen bis zur Haxe in 66 Teile zerlegt und Stück für Stück in Blöcke aus Natursilikon gegossen und zur Schau gestellt. Die Museumsbesucher können nun versuchen, das Schwein wieder zusammenzusetzen. „Je genauer sie das schaffen, desto vollständiger und intensiver wird auch das Schlachterlebnis. Ich wollte darauf hinweisen, dass die meisten industriell gefertigten Produkte aus Tieren keinem Lebewesen mehr ähnlich sehen“, sagt sie, „wir essen Objekte aus Tiersubstanz, wie zum Beispiel Chicken Nuggets oder Würstchen, und ekeln uns nicht davor – vor einer blutigen Schweinerippe aber schon.“
Dann habe ich Hanni kennengelernt. Sie ist Ernährungswissenschaftlerin und hat mir erklärt, dass der Hunger auf vegetarische Wurst auch mit einer extrem ausgeprägten Fantasielosigkeit, was das Essen angeht, zu tun haben könnte. „In unserem Kulturraum charakterisiert Fleisch noch immer die Hauptspeise“, sagt sie. Alles andere sei lediglich Beilage. „Lässt man Fleisch weg, hinterlässt das ein großes Loch auf dem Teller.“
Ich möchte diese kleine Kolumne nicht überstrapazieren, aber schon jetzt ist auch klar: Mögen sich die Konsumenten noch so sehr an ihre Schweineschnitzel klammern, auf Dauer wird sich die wachsende Weltbevölkerung nicht mit Fleisch ernähren lassen. Forscher suchen händeringend nach alternativen Eiweißquellen. Inzwischen spielen auch Themen wie Nachhaltigkeit und Tierwohl (Stichwort: Die armen Schweine) eine immer größere Rolle. Und die Zahl derer, die ihren Fleischkonsum reduzieren, aber nicht auf den Fleischgeschmack verzichten wollen, steigt. Das Allerwichtigste dabei ist: Das Fleischlose muss so fleischähnlich wie nur möglich sein, im Geschmack und Aussehen, in Biss und Konsistenz.
Alleine der Ersatz von Fleisch durch Ersatzprodukte werde aber nicht ausreichen, sagt Andrea: „Wir müssen unseren Lebensstil überdenken. Ernährung ist politisch und schon lange keine Privatsache mehr. Alles, was ich konsumiere, hat Auswirkungen auf den Planeten und die Menschen. Es gibt kein Grundrecht auf Fleisch.“
Der Konsum der anderen
Wie Sie natürlich alle längst wissen, habe ich ein großes Faible für verlorene oder weggeschmissene Einkaufszettel. Ich finde es extrem spannend, einen unverhofften Einblick in den geplanten Konsum anderer Menschen bekommen zu können. Und natürlich fühle ich mich dann wie ein Detektiv. Als wenn ich in fremde Küchen, Köpfe und Kühlschränke gucken darf, ohne dass es jemand bemerkt.
Aber es ist nicht so, dass ich den Blick stets nach unten richte und den Boden und die Einkaufskörbe nach den oft zerknitterten, vielleicht aus der Tasche gefallenen Zettelchen absuche. Die Papierchen tauchen nämlich einfach auf, sie liegen plötzlich da. Auf dem Parkplatz. Im Rollwagen. In den Fußgängerzonen. Oder an der Kasse im Supermarkt, wie zuletzt vergangene Woche.
Niemand schien sich für den blauen Zettel auf dem Boden zu interessieren. Also wartete ich in der Schlange, bis ich vorne angekommen war und griff zu. Eine sehr gut zu lesende schöne Schrift, vermutlich von einer Frau geschrieben. Neben „Senf, Champignons, 1 Do stückige Tomaten“ sowie „Paprika, Raspelkäse, 2 Hähnchenbrustfilets“ und „Mozzarella“, hatte die Einkäuferin auch „rote Zahnbürste, Zahnpasta und Acrylfarbe“ notiert. Und, Achtung es ist Frühling: „Blumenerde. Blumenzwiebeln“.
Ein kleines Blatt Papier kann viel über einen Menschen erzählen. Vermutlich plante die Schreiberin für das Wochenende einen Gemüseauflauf mit Fleischeinlage und anschließender Renovierung der Küche. Warum die Zahnbürste ausgerechnet rot sein musste, bleibt bis heute unklar, es könnte natürlich die Lieblingsfarbe der Putzerin sein. Wer weiß …
Jedenfalls stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich ab sofort die gesammelten Gedächtnisstützen anderer, die ich in einer Schublade verwahre, für meinen Einkauf nehmen würde. Dann bräuchte ich sie nicht mehr selber schreiben, überlegte ich. Ich würde einfach all das kaufen, was andere haben wollen. Und ich müsste mir nie wieder Gedanken über das Was-kaufe-ich-ein machen. Das würden andere für mich übernehmen. Und dann würde ich meine Küche renovieren, dabei die Zähne putzen, während der Duft eines schmackhaften Gemüseauflaufes aus dem Ofen käme. Was will man da noch mehr? Senf!
„Please egg, but no speck!“
Der Satz „Please egg, but no speck!“ kommt bei uns seit mehr als 30 Jahren am Ostersonntag auf den Tisch. Meine Mutter, die eigentlich kein Englisch sprach, sagte ihn damals zu Marc, unserem amerikanischen Austauschschüler, der für ein ganzes Jahr aus New York City nach Henstedt-Ulzburg in unsere Familie gekommen war. Und auch blieb. But no Speck!
Und auch sonst kennt meine Mutter bis heute alle Tricks, wenn es ums Ei geht. So sollte es vor dem Kochen unbedingt Zimmertemperatur haben, sagt sie, dadurch bekommt es keinen Sprung. Salz oder Essig im Wasser helfen dabei, dass es nicht platzt. Und ganz wichtig: Jedes Ei schält sich gleich nach dem Kochen am schwersten. Je älter es ist oder je länger es gekocht im Kühlschrank liegt, umso besser geht die Schale ab. Auch mit kaltem Wasser abschrecken, hilft da gar nichts. Sagt meine Mutter. In Ei-Kunde macht ihr keiner etwas vor. Und wenn man das ungekochte Ei ans Ohr hält und schüttelt, sollte es nicht schwappen und kein dumpfer Laut hörbar sein. Wichtig: Bei einem frischen Ei hört man nichts!
Aber mal zwischendurch gefragt: Wie mögen Sie eigentlich ihr Frühstücksei? Lieber weich oder hart? Je größer, desto besser? Wie soll das Verhältnis von Eigelb zu Eiweiß sein? Sind Sie Köpfer oder Klopfer? An dieser Frage sollen ja bereits Ehen zerbrochen sein. Sieben Minuten, das Weiße fest, das Gelbe irgendwo zwischen fest und flüssig – so mag ich am Morgen mein Ei.
Oh, da fällt mir ein: Eine zu Beginn der 60er-Jahre an der Universität von Cambridge angestrengte Testreihe unterstreicht, dass nur Eier von bestimmten Vögeln genießbar sind. Haben Sie das gewusst? Eine Jury prüfte seinerzeit den Geschmack von 200 verschiedenen Vogeleiern. Jedes Ei wurde roh verrührt, der Geschmack benotet. In der von 2 bis 10 reichenden Skala schnitten Hühnereier mit der Note 8,7 glänzend ab.
Die Essbarkeit der Blaumeiseneier lag bei 4,1, der Zaunkönig schmeckte mit einer 2,7 nicht mehr wirklich. Und das winzige Ei der Tannenmeise dürfte mit einer Note von 2,0 geradezu brechreizend gewesen sein. Pinguine und Albatrosse dagegen scheinen – laut Untersuchung – das Hühnerei sogar noch zu übertreffen und bekamen die Traumnote 9,0.
Manche Eier, die ich in den letzten Jahren zu Ostern für meine Kinder im Garten versteckt hatte, sind bis heute nicht gefunden worden. So gut waren meine Verstecke! Doch hin und wieder kommt es vor, dass einer unserer Söhne mitten im Sommer oder kurz vor Weihnachten mit einem angemalten Ei von osterdazumal ins Haus gelaufen kommt und ruft: Gefunden! Und dann hilft auch kein Frischetest mehr. In diesem Sinne: Frohe Ostern!
Das altbekannte Rein-und-Raus-Spiel im Supermarkt
Das Einkaufen im Supermarkt ist ja schon immer seltsam gewesen. Ich nehme Dosen, Packungen, Dinge in Tütchen, in Plastik eingeschweißte Bananen, eine Gurke oder Pizza aus Regalen oder Tiefkühltruhen und lege alles Teil für Teil in den Einkaufswagen. Möhren im Glas, eine Flasche Wein, Nudeln oder Milch.
Dann schiebe ich zur Kasse, stelle mich an die Schlange und warte, um jedes einzelne Teil wieder aus dem Wagen zu nehmen, um dieses dann auf dem viel zu schmalen Förderband zu platzieren. Noch während der oder die Kassiererin jedes Produkt über den Biep zieht, lege ich Dose für Dose und Gurke für Gurke wieder hinein in den Wagen.
Es ist das altbekannte Rein-und-Raus-Spiel, das allerdings noch lange nicht zu Ende ist: Da ich keine Einkaufstüten verwende, lege ich nun das gerade Gekaufte Stück für Stück in den Kofferraum, um es dann zuhause Stück für Stück in Kisten zu packen, die ich dann ins Haus trage, wo ich jedes Teil wieder in die Hand nehme, um es in Schränken, in Schubladen, in Obstschalen oder im Kühlfach zu verstauen. Und wenn ich dann tatsächlich fertig bin mit dem Einkauf, hatte ich jedes Produkt nicht weniger als sechsmal in der Hand, um es endlich auch dort zu haben, wo es hinsoll und nicht irgendwo im Weg herumliegt.
Nein, ich gehe nicht wirklich gerne in den Supermarkt. Und manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass wir zu Sklaven der Tausenden Dinge geworden sind. Brauche ich das jetzt wirklich, was ich da gerade in den Händen halte? Warum kaufe ich das eigentlich? Geht es nicht auch ohne?
Vor einigen Wochen erzählte ich an dieser Stelle von Oscar, einem Hund, der von zu Hause ausbüxte und in den nächsten Supermarkt lief, wo er allen Verlockungen standhielt, sich dann aber gezielt über die Überraschungseier in der Quengelzone an den Kassen hermachte. Er fraß zehn Stück. Gut gemacht, Oscar, dachte ich voller anerkennender Bewunderung. Was für ein Hund! Denn: Er lief ohne etwas aus dem Supermarkt wieder nach Hause. Wobei, Tage später würgte er eines der gelben Plastik-Eier wieder heraus. Und sein Herrchen baute den Inhalt sogleich zusammen.
An der Tanke in den Urlaub
Es ist ja so, dass vor allem Gerüche längst vergessene Bilder und Gefühle zurückholen können. Besondere Ereignisse, die mit einem Duft oder einem Geschmack verbunden sind, graben sich tief in das Gedächtnis, sodass man sie auch Jahrzehnte später noch wachrufen kann. Momente der Kindheit werden wieder lebendig, Erinnerungen an endlos lange Sommerferien, in denen an jedem Tag die Sonne schien, man mit einem Bärenhunger aus dem Freibad kam – und dann gab es Pommes!
Bei mir ist es bis heute der Hauch von frisch gezapftem Diesel, der mich in der Zeit zurückreisen lässt. Kaum bin ich beim Tanken, bin ich im Urlaub. In Gedanken stehe ich an einer Zapfsäule in Portugal, bin sofort wieder 23 Jahre alt. Und die Sonne scheint. Und ich habe Zeit.
Denn so fing das alles an mit dem Reisen auf Rädern. Es war 1996, das Jahr, in dem Rio Reiser starb. Ein Schaf namens »Dolly« kam zur Welt. Und ich hatte mir mein erstes Auto gekauft: Einen rostigen, postgelben Bulli, Baujahr 1973. Für 2670 Mark. Ein Freund malte schwarze Posthörner auf die Türen und zwei Wörter in großen Buchstaben darunter: PEST auf die eine und ROST auf die andere Seite. Und ich kannte jemanden beim TÜV. Vier Tage später ging es los.
Das Reisen funktionierte ganz anders damals – ohne Handy oder Hilfe aus dem Weltraum. Es gab noch keine Navis. Und ich weiß noch, dass ich – immerhin – eine Straßenkarte dabeihatte. Sie war aus dem Jahr 1979 und winzig: Europa im Maßstab eins zu vier Millionen. Und eigentlich hätte ich die Karte gar nicht gebraucht, wollte ich doch sowieso immer an der Küste entlang. Rechts das Wasser, links das Land, von Hamburg in Richtung Süden und bis nach Portugal. Dann umdrehen und zurück. Ich hätte mich gar nicht verfahren können.
Nach vier Monaten und 16.000 Kilometern endete diese erste Tour mit Motorschaden am Offenbacher Kreuz. Doch sie war wegweisend. Denn mir war schnell klar geworden, dass ich weiter so reisen wollte – im eigenen Haus auf Rädern. Der Bus als Hotel und Büro. Gleichzeitig unterwegs und trotzdem zu Hause. Alles drin, was ich brauche, sehr reduziert, aber ausreichend. So ließ es sich viel unabhängiger reisen.
Bis heute. Doch gerade die ersten Reisen bleiben ja für immer. Was auch für die Gerüche und Düfte gilt. So brauche ich heute bloß zur nächsten Tanke fahren, rieche den Diesel und bin wieder 23 Jahre alt und im Urlaub. Was bei den aktuellen Spritpreisen übrigens um einiges günstiger ist, als wirklich nach Portugal zu fahren.
Fingerhüte aus Deutschland
Neulich aus einem meiner Bücher in Tangstedt gelesen. War ein wunderbarer Abend. Und plötzlich haben alle Wodka getrunken. Obwohl ich gar nicht wollte, musste ich auch. Und sofort erinnerte ich mich an einige der vielen Reisen in Richtung Osten. Denn: Je weiter man nach Osten kommt, desto größer werden die Gläser, aus denen der hochprozentige Begleiter getrunken wird. Für die Bemerkung, dass Wodka in meiner Heimat in 2cl-Gläschen ausgeschenkt wird, wurde ich in allen Ländern Osteuropas ausgelacht.
In der einzigen Kneipe von Pacov, einem Dorf hundert Kilometer südlich von Prag, brüllten sie minutenlang vor Lachen, weil sie dachten, ich hätte einen Scherz gemacht. Als sie ihren Irrtum bemerkten, verstummten die fünf Männer und die Wirtin. Sie schauten mich ernst und voller Mitleid an. Ein stiller, absurder Moment. Bis mich einer der Männer namens Pastor in den Arm nahm – eine Geste, die mir sagen sollte: Ist doch nicht so schlimm, jetzt bist du ja bei uns, wo man weiß, wie man richtig trinkt.
Und dann bauten sie eine Reihe von Kurzen vor mir auf und füllten sie bis zum Rand: 2cl für mich, dazu 4cl, 5cl und unglaubliche 1dl. Eine kleine Schnapsglasfamilie. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte und dachte an die bunt bemalten, russischen Matrjoschka-Püppchen, die sich ineinander verstecken lassen. „Trinken wir auf die Fingerhüte aus Deutschland!“, rief Pastor und grinste so wahnsinnig, als wäre er bei der Pointe eines raffiniert aufgebauten Witzes angekommen. Wir tranken.
In einer Kneipe der Danziger Altstadt war ich mal der einzige Deutsche unter dreißig Einheimischen. Die Fußball-Europameisterschaft lief. Deutschland gewann 2:0 gegen Polen. „Du darfst dich ruhig freuen“, sagten die Männer, viele von ihnen kräftige Hafenarbeiter, „aber eine Lokalrunde musst du auch ausgeben.“ Wodka für alle natürlich. 5cl für vier Zloty, rund ein Euro. Sehr gefährlich: Trank man zwei, hatte man – nach deutschem Maß – fünf getrunken. Und ab dem Vierten waren wir sowieso alle gleich: Total besoffen.
Bestellt man im Westen Lettlands einen Wodka, wird man gefragt, ob es ein Wasserglas voll oder die ganze Flasche sein soll. Wäre ich in Russland, heißt es, würde man nicht mehr fragen. Einmal habe ich den Test gemacht und kurz vor der russischen Grenze „einen Wodka“ verlangt. Tatsächlich, der Wirt hat mir die Flasche auf den Tresen gestellt. Und dazu höflich gefragt: „Willst du auch ein Glas dazu?“.