Quickborn. Der Franzose Christophe Woehrle hat die Zwangsarbeit im Himmelmoor studiert. Seine Forschung überrascht. Förderverein kauft die Studie.

Genau 53 jüdische Kriegsgefangene sind während des Zweiten Weltkrieges im Arbeitslager 1416 im Quickborner Himmelmoor inhaftiert gewesen. Bis auf den Belgier Henri-Goldstein waren es allesamt Franzosen. Der französische Historiker Christophe Lucien Woehrle aus dem Elsass kennt sie alle. Der 54 Jahre alte Wissenschaftler hat ihr Leben, Schicksal und Leiden eingehend studiert.

Jetzt hat er seine Rechercheergebnisse und Dokumente dem Förderverein Henri-Goldstein-Haus, der sich nach dem noch bestehenden Kriegsgefangenenlager benannt hat, das jetzt eine offizielle NS-Gedenkstätte ist, für einen mittleren vierstelligen Betrag überlassen.

Himmelmoor Quickborn: Goldstein-Verein hat die Forschungsergebnisse gekauft

Darunter ist auch die Kopie einer Originalurkunde aus dieser Zeit, die alle Namen mit Herkunfts- und Berufsangaben der Gefangenen auflistet. „Diese Liste ist authentisch“, urteilt Woehrle.

Damit könne der Quickborner Förderverein endlich fehlende Wissenslücken schließen, freut sich die Zweite Vorsitzende Christina Lefebvre. Ohnehin hat der Förderverein einen Historiker beauftragt, die 150 Jahre währende Geschichte des industriellen Torfabbaus im Himmelmoor wissenschaftlich zu untersuchen.

Juden sind in Quickborn wie Kriegsgefangene behandelt worden

Wobei dieser insbesondere die Zeit der beiden Weltkriege im Blick haben soll, als es vornehmlich russische und französische Kriegsgefangene waren, die in Quickborn ihr Leben mit der schweren Arbeit des Torfstechens fristen mussten. Alle Forschungsergebnisse zusammen sollen dann zunächst in einem Buch, später auch als Ausstellung im Goldstein-Haus von 1936 der Öffentlichkeit präsentiert werden, kündigt Christina Lefebvre an.

Wesentliches Ergebnis der Analysen des promovierten Historikers Woehrle ist es, dass die jüdischen Kriegsgefangenen in Quickborn nicht anders behandelt worden seien als alle anderen ausländischen Kriegsgefangenen, die im Nazi-Reich inhaftiert waren. Auch sie seien hier nach der Genfer Konvention von 1929 inhaftiert gewesen, die eine gewisse humanitäre Behandlung der Kriegsgefangenen verlangte, betont Woehrle.

Jüdische Feste waren ebenso erlaubt wie die Seelsorge eines Rabbiners

Damit stehen seine Aussagen im Gegensatz zu den Memoiren Goldsteins, der etwa 40 Jahre später zahlreiche Schikanen und Misshandlungen der deutschen Aufseher während seiner Gefangenschaft in Quickborn beschrieb.

Woehrles Erkenntnisse stehen dagegen voll im Einklang mit den Recherchen des israelischen Wissenschaftlers Alexis Rodgold, der die Kriegsgefangenschaft seines Großvaters Léon Dreyfuss im Quickborner Himmelmoor mit zahlreichen Dokumenten und Briefwechseln akribisch untersucht hat, der von Dezember 1942 bis Mai 1945 im Himmelmoor inhaftiert war – und damit mehr als ein Jahr länger dort inhaftiert war als Goldstein es gewesen ist.

Franzose hat sich fünf Jahre seiner Forschung gewidmet

Die jüdischen Kriegsgefangenen konnten demnach im Quickborner Himmelmoor ihre jüdischen Feste wie Pessach zu Ostern feiern und ihre Gottesdienste abhalten. Sie wurden vom Rabbiner Ernest Guggenheim seelsorgerisch betreut, der auch andere jüdische Kriegsgefangenlager wie das in Glückstadt aufsuchen konnte.

Seit fünf Jahren beschäftigt sich Woehrle umfassend mit dem Schicksal der jüdischen Gefangenen in Quickborn, seit er für seine Doktorarbeit an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg zum Thema „Französische Kriegsgefangene in Franken im Zweiten Weltkrieg“ geforscht hat, die er 2019 mit 420 Seiten für seine Dissertation vorgelegt hat.

Christina Lefebvre vom Förderverein des Henri-Goldstein-Hauses im Quickborner Himmelmoor freut sich, dass der promovierte französische Historiker Christophe Woehrle dem Verein seine Forschungsergebnisse überlassen hat.
Christina Lefebvre vom Förderverein des Henri-Goldstein-Hauses im Quickborner Himmelmoor freut sich, dass der promovierte französische Historiker Christophe Woehrle dem Verein seine Forschungsergebnisse überlassen hat. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

Genau wie in Franken seien auch in Quickborn die jüdischen Kriegsgefangenen nicht misshandelt, ins KZ deportiert, gefoltert oder getötet worden. Vielmehr konnten sie im Straflager neben der schweren Arbeit relativ normal leben und vor allem überleben, berichtet Woehrle.

Häftlinge bekamen Lohn für die schwere Arbeit und konnten damit einkaufen

Wobei es den Franzosen erheblich besser ergangen sei als russischen Gefangenen, zeigt er anhand von Zahlen auf: So seien von 4,7 Millionen Inhaftierten russischer Herkunft während des letztes Krieges im Deutschen Reich 2,1 Millionen umgekommen. Von den 1,8 Millionen französischen Kriegsgefangenen starben dagegen nur 51.000. „Das Schicksal der Gefangenen an der Westfront war wesentlich angenehmer als an der Ostfront.“

Alexis Rodgold berichtet von ähnlichen Erfahrungen. Nach dessen Recherchen erhielten die jüdischen Kriegsgefangenen im Himmelmoor einen Lohn für ihre schwere Arbeit, mit dem sie bei einem fliegenden Händler aus Quickborn etwas kaufen konnten. Und sie bekamen auch Pakete vom Roten Kreuz mit Zigaretten und Schokolade. „Objektiv ging es ihnen schlecht. Subjektiv ging es ihnen gut“, beschreibt Rodgold die Haft seines Großvaters. „Natürlich war das Leben im Himmelmoor schwer, aber verglichen mit dem KZ war es ein Fünf-Sterne Hotel.“

Förderverein verfügt jetzt auch über das Dokument mit Namen aller Gefangenen

Auch Woehrle weiß von Briefen, die die Gefangenen an ihre Familien schickten und die er zum Teil lesen konnte. Die Angehörigen der Gefangenen haben sie ihm zur Verfügung gestellt. Sie erzählen von einem relativ humanen Lagerleben. „Aber es war natürlich kein Ferienlager“, betont Woehrle. „Die Gefangenen mussten unter Zwang von morgens bis abends schwere körperliche Arbeit verrichten.“

Was dem eher schwächlich anmutenden Goldstein, der oft krank gewesen sei und dabei stark abgenommen hätte, schwerer als anderen gefallen sein dürfte - zumal dieser als einziger Belgier unter den Gefangenen ein Außenseiter gewesen sei. Es müsse aber auch bedacht werden, dass die Briefe der Gefangenen an die Familien die Zustände des Lagerlebens beschönigt haben dürften.

Das Originaldokument der authentischen Lagerliste im DIN-A-3-Format mit den Namen, Berufen und Herkunftsorten aller 53 Inhaftierten befindet sich heute in einem Museum im Nordelsass. Es sei für 50 Euro von einem Sammler erworben worden, berichtet Woehrle. Dem Quickborner Förderverein war es zuvor für 1000 Euro angeboten worden, was dieser abgelehnt hatte, berichtet Christina Lefebvre.

Förderverein will die Geschichte in Buch und Ausstellung präsentieren

Nun mit der Gesamtschau und den Hunderten von Dokumenten, die der Historiker Woehrle dem Förderverein zur Verfügung stellte, könnte diese bislang dunkle Geschichte Quickborns umfassend beleuchtet werden, sagt Christina Lefebvre. „Das ist eine tolle Sache. Wir werden die Biografien der Inhaftierten in einer Extra-Ausstellung zeigen.“ Das könnte bis 2025 geschehen, hofft sie. Im nächsten Jahr soll zunächst die Aufarbeitung des engagierten Historikers Karsten Wilke veröffentlicht werden.

Zudem müsse das Gebäude, das sich noch weitgehend im Originalzustand von 1936 befindet, dringend saniert werden. Das Dach und die Fenster sind unter anderem marode. Land und Bund unterstützen die Projekte der anerkannten NS-Gedenkstätte mit 330.000 Euro.