Pinneberg/Boostedt. Sie war Integriert, doch nun soll die 14-Jährige ausreisen. Mitschüler kämpfen rührend um das Mädchen – und schreiben ihr täglich.
Eine ganze Schule bangt um das Schicksal der 14 Jahre alten Nourhan S.. Ihre Mitschülerinnen und -schüler der 8d im Schulzentrum-Nord in Pinneberg fiebern mit dem jungen Mädchen, das vor vier Jahren mit ihrer Mutter aus dem Kriegsgebiet im Jemen nach Deutschland gekommen ist und seitdem in Pinneberg zur Schule ging.
Doch damit ist es vorerst vorbei. Seit Mitte Januar befindet sich Nourhan mit ihrer Mutter und dem älteren Bruder Ahmed in der Landesunterkunft für Ausreisepflichtige in Boostedt. Der Familie droht die Abschiebung nach Rumänien, wo sie vom Jemen aus zunächst Asyl beantragt hatte.
Jemen: Abschiebung droht – Pinneberger Schüler kämpfen für Nourhan
Dabei habe sich Nourhan in der Schule ganz hervorragend entwickelt und sehr gut in die Gemeinschaft integriert, sagt Schulleiterin Stefani Quoß. „Wir möchten sie alle so gerne wiederhaben. Und das so schnell wie möglich, damit sie rasch wieder Anschluss findet.“
Und Klassenlehrerin Kerstin Starke sagt: „Ihre Mitschülerinnnen und Mitschüler sind alle tief betroffen, traurig und fassungslos, dass Nourhan weg ist.“ Um dem aufgeweckten Mädchen, das sich so gut angepasst und sehr gut Deutsch gelernt hat, Mut zu machen, schickt die Klasse ihr jeden Tag eine aufmunternde Postkarte in die Landesunterkunft.
„Lass den Kopf nicht hängen, Nourhan“, schreibt eine Mitschülerin
Da schreiben die Mitschüler ihr zu Herzen rührende Texte unter bunt gemalten Bildern, verziert mit Blumen, Palmen, tränenden Augen und vielen Herzchen: „Lass den Kopf nicht hängen, Nourhan.“ „Auch wenn es schwer fällt, hab‘ die Kraft, damit fertig zu werden.“ „Nur starke Menschen bekommen schwere Wege, liebe Nourhan!“ „Es tut uns leid, dass du und deine Mutter eine Abschiebung bekommen haben. Wir stehen auf deiner Seite, Nourhan.“
„Wir sind alle hinter dir und unterstützen dich.“ „Du wirst das schaffen. Die Schule wünscht dir Glück, Hoffnung und Gesundheit!“ „Wir vermissen dich und versuchen immer zu helfen.“ Und: „Liebe Nourhan, wir alle lieben dich und wollen, dass du wieder bei uns bist.“
Pinneberg: Mehr als 1000 Unterschriften hat die Schule für Nourhan gesammelt
Dankbar über die Trostspenden antwortet das Mädchen ihren Freundinnen und Freunden in Pinneberg: „Liebe Lehrerin, Lehrer und meine Klasse, ich bedanke mich bei euch allen für eure Unterstützung und die schönen Nachrichten. Mir geht es gut, und ich hoffe, euch geht es auch gut. Ich wünsche euch viel Freude, liebe Grüße, Nourhan.“
Es ist ein herzzerreißender Schriftwechsel, der sich hier seit Wochen zwischen der Kreisstadt Pinneberg und der etwa 60 Kilometer entfernten Landesunterkunft im Kreis Segeberg abspielt. Mehr als 1000 Unterschriften hat die Schule für Nourhan gesammelt, woran sich auch viele Eltern anderer Kinder und Nachbarn beteiligt hätten, erklärt Schulleiterin Quoß. Sogar ein Fahrrad hätten sie dem Mädchen nach Boostedt geschickt, um ihm den weiten Schulweg dort etwas zu erleichtern.
Nourhans Bruder studiert in Hamburg Elektrotechnik
Das Problem für die Familie aus dem Jemen sei, dass sie über Rumänien, einem angeblich sicheren Drittstaat, hierher eingereist sei, heißt es von den Ausländerbehörden. Dies gelte für Nourhan, ihre Mutter und den etwas älteren Bruder. Der Vater, der schon länger hier lebt und sich von seiner Frau getrennt hat, sei davon nicht betroffen. Ebenso wenig wie ihr ältester Bruder Hussain (25), der im vierten Semester Elektrotechnik in Hamburg studiert und eine gültige Aufenthaltserlaubnis besitzt.
Er sagt: „Es ist schwierig für meine Mutter und meine Geschwister.“ Im Jemen herrsche überall Krieg und Armut. Der Vater, der später nachgereist sei, habe eine hohe Funktion beim Militär in der Vorgängerregierung im Jemen gehabt, die die schiitischen Huthi-Rebellen abgesetzt haben und die sich jetzt im saudi-arabischen Exil befindet. Saudi-Arabien, Iran und die USA sowie andere Länder und Interessensgruppen befeuern diesen Bürgerkrieg mit Waffenlieferungen.
Seit Januar sind Nourhan und ihre Mutter in Boostedt
Der Asylantrag von Nourhan und ihrer Mutter soll im Juni 2020 abgelehnt worden sein, weil die Familie in Rumänien bereits internationalen Schutz erhalten habe, heißt es von den Ausländerbehörden. Daraufhin habe die kleine Familie ihre freiwillige Ausreise angekündigt, die sie aber nicht antrat, sodass sie am 12. Januar nach Boostedt gebracht worden sei.
Dies geschah in aller Frühe und ohne, die Schule davon in Kenntnis zu setzen, kritisiert Schulleiterin Quoß. „Das erschreckt mich doch sehr und hat die Familie sicher noch mehr traumatisiert.“ Die Schule kümmere sich sofort und melde sich bei den Eltern, sobald ein Kind nicht zur Schule kommt, „damit kein Kind verloren geht“, sagt die Rektorin. Diese Sorgfalt unterliefen die zuständigen Ausländerbehörden einfach, indem sie die Schule völlig im Unklaren ließen.
Pinneberg: Schule wurde von Behörden nicht informiert
Erst als die erfahrene Sonderpädagogin Shila Sayfaddini die Wohnung der Familie aufsuchte, die sie leer und unbewohnt vorfand, sei ihnen klar geworden, dass Nourhan nicht mehr da sei, ärgern sich die Lehrkräfte im Schulzentrum-Nord über die Ignoranz der Behörden. Dazu teilt Kreissprecherin Katja Wohlers mit, dass die Zuwanderungsbehörde des Kreises und das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge eng zusammenarbeiteten. Den Transfer in die Unterkunft nach Boostedt übernähmen die Mitarbeitenden des Landesamtes.
Wohlers: „Personen, die ausreisen müssen, bekommen mit einem zeitlichen Vorlauf mitgeteilt, dass sie ihren Wohnsitz verlassen müssen. Eine Information von Seiten der Zuwanderungsbehörde beispielsweise gegenüber Schulen erfolgt schon aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht.“ Die Betroffenen müssten selbst klären, wen sie über das Ende ihres Aufenthalts informierten.
Anwalt: Familie wurde zur „freiwilligen Ausreise genötigt“
Nourhans Rechtsanwalt Carlos Drescher argumentiert, die Familie aus dem kriegsgeschüttelten Jemen sei von den Ausländerbehörden zur „freiwilligen Ausreise genötigt“ worden. Aber offenbar bestünden schwerwiegende Hinderungsgründe, sie nach Rumänien abzuschieben, sonst wäre dies wohl schon geschehen, glaubt er.
Gegen den Bescheid des Landesamtes für Zuwanderung und Flüchtlinge zur Ausreisepflicht von Ende Januar 2023 habe er Widerspruch eingelegt, erklärt Anwalt Drescher. Denn der Aufenthalt der Familie sei seit mehr als drei Jahren in Deutschland gestattet und geduldet, weshalb ihr eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zustünde. „Das wird einfach ignoriert.“
Schulleiterin bescheinigt Nourhan enorme Integrationsleistung
Wolfgang Kossert, Sprecher des Landesamtes für Zuwanderung und Flüchtlinge, sagt auf Abendblatt-Nachfrage, dass der Widerspruch der Familie jetzt vom Sozialministerium in Kiel noch einmal überprüft werde. Das Ministerium wiederum habe darum gebeten, „derzeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen“, heißt es in einem Schreiben von Mitte März vom Landesamt an den Anwalt.
Die Hoffnung für die betroffene Familie und die Schule in Pinneberg liegt in der enormen Integrationsleistung, die das junge Mädchen von der arabischen Halbinsel in kurzer Zeit erreicht habe. „Sie hat es so schnell geschafft, die deutsche Sprache zu lernen, ist fleißig und schreibt gute Noten“, sagt Schulleiterin Quoß. „Das ist einfach großartig.“ Insbesondere in den Naturwissenschaften sei Nourhan eine begabte Schülerin; sie möchte wie ihr Bruder einmal Elektrotechnik studieren.
Jemen: Pinneberger Schüler wollen, dass Nourhan Abitur macht
Dieses große Lernpotenzial einer jungen, aufstrebenden Schülerin so ohne Weiteres aufzugeben, halte sie für einen schweren Fehler, sagt die Schulleiterin. Und verweist darauf, dass der deutsche Staat bereits sehr viel Geld, Personal und Aufwand in ihre Ausbildung und Eingliederung in unsere Gesellschaft gesteckt habe. „Das junge Mädchen hat schon so viel gemeistert und würde mit ihren Fähigkeiten und ihrer Akribie mit Sicherheit das Abitur schaffen.“