Quickborn/Itzehoe. Auf der Zielgeraden des langen Verfahrens gegen die 97 Jahre alte Angeklagte machen die Opferanwälte ihren Standpunkt deutlich.
Es war Tag 39 im KZ-Prozess vor dem Landgericht Itzehoe – und wenn alles nach Plan verläuft, folgen lediglich noch zwei Verhandlungstage. Das Plädoyer der Verteidigung und das letzte Wort der 97 Jahre alten Angeklagten Irmgard F. aus Quickborn am morgigen Dienstag sowie das Urteil zum geplanten Ende des Verfahrens am 20. Dezember.
An Tag 39 hatten die letzten Anwälte der Nebenklage das Wort – und sie waren sich einig: Die Angeklagte, die von Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin in der Kommandantur des KZ Stutthof direkt dem Lagerkommandanten zuarbeitete, habe sich der Beihilfe zum tausendfachen Mord schuldig gemacht. Beim Strafmaß, das sich aufgrund des damaligen Alters der Frau nach Jugendstrafrecht bemisst, gingen die Meinungen jedoch weit auseinander. Die Forderung der Staatsanwältin Maxi Wantzen, die für Irmgard F. zwei Jahre auf Bewährung beantragt hatte, unterstützte etwa Günther Feld. „Ich halte das für richtig.“
Laut dem Rechtsanwalt, der eine Stutthof-Überlebende vertritt, „ist keine Strafe nach unserem Recht möglich, die dem gerecht wird, was da passiert ist“. Seine hochbetagte Klientin habe in dem seit September 2021 andauernden Verfahren nicht ausgesagt, weil sie sich kaum noch an die furchtbaren Ereignisse erinnern könne, die ihr in dem KZ widerfahren seien. Feld: „Das ist, man muss das so sagen, für sie mehr Segen als Fluch.“
Onur Özata, der drei Nebenkläger vertritt, wies auf die sechs Millionen getöteten Juden während des Zweiten Weltkrieges hin. 65.000 Personen seien in Stutthof ermordet worden, davon mehr als 11.000 während der Arbeitszeit der Angeklagten. „Zahlen sind stumm und leblos, meine Mandaten begrüßen es, dass Jahrzehnte nach diesen Taten Verfahren dazu stattfinden.“ Man dürfe nie vergessen, was Deutsche ihren Nachbarn angetan hätten, „nur weil sie Juden waren“. Lediglich 7000 NS-Täter seien von den deutschen Behörden zur Rechenschaft gezogen worden, nur 172 von ihnen seien wegen Mordes verurteilt worden. Alleine in Stutthof, einem verhältnismäßig kleinen Lager, seien während seines Bestehens 3000 SS-Leute tätig gewesen. „Nur ein Bruchteil davon ist vor Gericht gestellt worden.“ Irmgard F. sei „Teil eines Unternehmens gewesen, dessen Geschäftsgrundlage der Tod war“. Auch die Vernichtung habe Mitwirkende benötigt, und die 97-Jährige sei damals „ein Handlanger des Bösen gewesen“.
Hans-Jürgen Förster, der Anwalt von vier Nebenklägern ist und früher als Bundesanwalt tätig war, machte deutlich, dass die Angeklagte ihre Hilfsleistungen zum staatlich organisierten Massenmord „bewusst und gewollt“ erbracht habe. Sie habe zum reibungslosen Funktionieren des Lagers beigetragen, obwohl sie sich über die Verbrechen im Klaren gewesen sein müsse. „Es war unausweichlich, dass sie die Grausamkeiten, die konkret lebensfeindlichen Bedingungen im Lager wahrgenommen hat.“
Durch ihre tägliche Zuarbeit für „niemand geringeren als den Kommandanten“ sei sie an den Gräueltaten „konkret und zurechenbar“ beteiligt gewesen. Die Höhe der zu verhängenden Strafe stellte Förster ins Ermessen des Gerichtes. „Genugtuung erfahren die Opfer nur aus einem auch für die Angeklagte gerechten Urteil.“ Er bemängelte zugleich die lange Dauer des Verfahrens. Allein das Ermittlungsverfahren habe vier Jahre gedauert.
Sein Kollege Christoph Rückel dagegen sprach sich für eine Haftstrafe im nicht mehr bewährungsfähigen Bereich aus. „Eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung wäre ein falsches Signal.“ Dieses würde zudem signalisieren, dass sich das lange Warten bei der Strafverfolgung auszahlen würde. „Das kann nicht sein.“
Das Leid der Menschen in Stutthof sei sichtbar, das Morden greifbar gewesen. „Die Menschen und auch die Leichen im Lager waren gut sichtbar von dem Gebäude, in dem die Angeklagte gearbeitet hat.“ Irmgard F. hat den gesamten Prozess über geschwiegen, sie habe den Erklärungen ihrer Verteidiger nicht einmal widersprochen. Ihre Flucht am ersten Prozesstag und ihr Verhalten vor dem Haftrichter hätten gezeigt, dass sie „in keiner Weise kooperationswillig ist“.