Kreis Pinneberg. Schon mit 60 Jahren beginnt für die meisten Menschen eine neue Lebensphase. Diese Strategien helfen im „dritten Alter“.

Axel Bätge ist ein lebendiger Typ. Und sportlich dazu. Laufen, schwimmen, mit dem Rad fahren – mindestens dreimal pro Woche powert sich der 64-Jährige so richtig aus. Um den Körper zu stählen und mental und psychisch neue Kraft zu tanken. Seit Februar 2021 ist der Familienvater offiziell im Ruhestand. Im was? Nein, einen Ruhestand gibt es für den drahtigen Rellinger nicht.

Nicht jeder genießt das sogenannte „dritte Alter“ so wie er. Schon mit 60 Jahren beginnt für die meisten Menschen eine neue Lebensphase, die geprägt ist von einschneidenden Veränderungen und Abschieden. Familiengründung und Karriereplanung liegen hinter ihnen. Die Kinder sind aus dem Haus. Die sozialen Kontakte vermindern sich. Viele gehen aus dem Beruf. Kurzum: Die Alltagsstruktur verändert sich, und es stellt sich die Frage: Wie geht’s nun weiter?

Kreis Pinneberg: Die Rente naht, doch wie geht es weiter?

Der amerikanische Soziologe Robert Atchley hat den Übergang in den neuen Lebensabschnitt in sechs Phasen aufgeteilt:

Entfernte Phase: Bis etwa drei Jahre vor dem Ruhestand wird dieser als ewiger Urlaub betrachtet.

Nähephase: Kurz vor der Pensionierung beschäftigt sich der Betroffene aktiv mit seiner zukünftigen Rolle. Erste Ängste und Befürchtungen kommen auf.

Euphoriephase: Gleich nach Pensionsbeginn kommt die „Honeymoon-Phase“. Die Freizeit wird in vollen Zügen genossen mit euphorischer Geschäftigkeit.

Ernüchterungphase: Man fühlt sich niedergeschlagen und merkt, dass irgendetwas im Leben fehlt.

Neuorientierungsphase: Die Betroffenen versuchen, dem Leben eine neue Richtung zu geben mit sinnvollen Aufgaben und einer neuen Alltagsstruktur.

Stabilitätsphase: Menschen haben ihre neuen Rollen gefunden und identifizieren sich damit. Das stabilisiert ihre Identität. Veränderungen, etwa eigene Erkrankungen oder solche des Partners, werden gut bewältigt.

Tja, wie geht’s also weiter? Auch Axel Bätge hat sich diese Frage vor dem Übergang in den neuen Lebensabschnitt gestellt. Seine Antwort darauf: die geregelte Tagesstruktur diszipliniert und mit bewährten sowie neuen sinnstiftenden Inhalten weiterzuführen.

Auf die Gesundheit zu achten, ist wichtig, Kontakte zu pflegen ebenfalls

Will heißen: 7.30 Uhr aufstehen, frühstücken, erster Nachrichtencheck in den sozialen Medien, Arbeit am PC und bei Bedarf am Haus: „Im Sommer Außendienst, im Winter Innendienst“, sagt er und lacht. Sport, ein kleiner Mittags-Snack und ab in den Stressless-Sessel zum Powernapping. „Aber nicht länger als 20 Minuten“, sagt der studierte Diplom-Kaufmann. „Danach bin ich in geistiger Höchstform, lese digital das Abendblatt, mache Denksportaufgaben. Um ganz bewusst auch mein Gedächtnis zu trainieren.“

Der Erfolg beim Mentaltraining läge, sagt Axel Bätge, der an der VHS Spanisch lernt, darin, regelmäßig unterschiedliche geistige Reize zu setzen. Zum Beispiel auf dem Weg zu wiederkehrenden Zielen ruhig mal eine andere Strecke zu nehmen. Soziale Kontakte sind ihm und Ehefrau Gabriele (59) wichtig. Genauso wie regelmäßige Theaterbesuche oder eine Städtereise. Kulinarik und Kommunikation verbinden beide beim gemeinsamen Abendessen, für das seine Frau, sie gibt an der Volkshochschule Halstenbek Koch- und Ernährungskurse, verantwortlich ist.

Auf seine Gesundheit zu achten, ist dem passionierten Skifahrer wichtig. Einmal jährlich lässt sich Axel Bätge durchchecken. „Da geize ich nicht.“

In Workshops können sich Interessierte auf das Älterwerden vorbereiten

„Gesund älter werden“ mit den Themen Ernährung, Bewegung und Stressabbau ist auch Teil des Schulungsangebotes des Kompetenzzentrums Navigation60 plus der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung in Schleswig Holstein e.V. (LVGFSH) in Kiel (Infos unter www.lvgfsh.de).

Mit landesweiten Impulsvorträgen, Schulungen, Beratung in Einzelgesprächen oder Kleingruppen, Einzelcoachings für berufstätige Menschen im Alter von 60plus beziehungsweise Informationsveranstaltungen und Workshops in Zusammenarbeit mit Arbeitgebern „schaffen wir die Gelegenheit, sich mit dem Thema Ruhestand auseinanderzusetzen und mit Menschen in der gleichen Situation auszutauschen“, sagt Dorothea Wilken-Nöldeke, Fachreferentin der LVGFSH. Der berufliche Hintergrund jedes Einzelnen spiele dabei keine Rolle: „Die Herausforderungen sind ähnlich“, sagt die 55-Jährige.

Nicht rumtrödeln, lieber eine feste Tagesstruktur

Das bestätigt auch Teilnehmerin Christiane Riehl (64). Die Ingenieurin geht im Spätherbst in den Ruhestand. Sie freut sich auf die neue Lebensphase. Doch beschleicht sie hin und wieder auch ein mulmiges Gefühl. „Das war einer der Gründe, mich anzumelden, um zu erfahren: Wie geht es den anderen?“ Aus dem ersten Teil des Workshops nimmt sie mit: Viele empfinden ähnlich wie sie. Ängste nehmen und mit den TeilnehmerInnen Perspektiven entwickeln, das ist das Ziel von Dorothea Wilken-Nöldeke und ihren KollegInnen. „Wir verdeutlichen in unseren Workshops, welches Potenzial die neue Lebensphase hat. Gemeinsam erstellen wir beispielsweise ein Ideentableau zu Themen wie ‚Woran habe ich Freude? Und was kann ich tun, um meine Gesundheit zu stärken?’ Davon sind alle ganz begeistert, weil sie immer noch Ideen finden, die sie nicht als Möglichkeit im Kopf hatten.“

Auch wenn sie offen ist für Neues – eines wird Christiane Riehl auf jeden Fall beibehalten: eine feste Tagesstruktur. „Rumtrödeln, das ist nichts für mich“, sagt die gebürtige Rheinländerin. Einen geregelten Tagesablauf, ganz zwanglos, ohne (Zeit)-Druck – mit allem, was das Leben bereichert. Die passionierte Motorradfahrerin freut sich auf Touren in die Umgebung mit ihrem Mann, auf Naturerlebnisse wie Kräuterwanderungen, auf Kreativität im Garten und an der Nähmaschine, auf Kultur und alles, was da noch kommt.

Es gibt Menschen, die an den Herausforderungen des Alterns zerbrechen

Beim Älterwerden hat sie den meisten Menschen etwas voraus: Mehr als 30 Jahre hat Sonja Schiff (57) im Bereich Altenpflege gearbeitet und dabei gesehen, wer zufrieden und gut älter wird – auch bei Pflegebedürftigkeit --, und wer an den Herausforderungen des Alterns zerbricht und am alten Leben leidet. Die Gerontologin hat in diesem Zusammenhang drei Eigenschaften benannt:

Optimismus: „Die Natur hat es so vorgesehen, dass ältere Menschen mit ihrem Leben zufriedener sind als jüngere Menschen. Woran das liegt, wurde ausführlich erforscht. Ergebnis: Mit dem Älterwerden entwickeln wir ein selektives Denken. Wir nehmen Positives stärker wahr als Negatives. Auch unsere Erinnerungen werden immer positiver. Die Wissenschaft hat diesem Phänomen sogar einen Namen gegeben: Positivitätseffekt.“

Disziplin: Wenn Sonja Schiff eines aus ihren vielen Jahren Altenpflege mitgenommen hat, dann die Erkenntnis, dass gutes Älterwerden Disziplin braucht. „Dazu zählt für mich vor allem die Disziplin, mit dem Älterwerden vorausschauend und bewusst umzugehen, sich mit dem eigenen Älterwerden zu beschäftigen und es ein wenig zu planen, nicht alles dem Zufall zu überlassen.“

Dankbarkeit: Für ein langes Leben, für gesunde Kinder und Enkelkinder, für Wohlstand, für ein Leben in Frieden, für schöne Begegnungen. Dankbarkeit und Optimismus, so die Expertin fürs Älterwerden, befeuern sich gegenseitig. Wer sich regelmäßig bewusst in Dankbarkeit übt, produziere das Glückshormon Dopamin.

„Wer eine dankbare Lebenshaltung hat, dessen Gehirn wird regelrecht umspült von Dopamin“, sagt Sonja Schiff. „Auch im Alter. Die Auswirkungen: Dankbare alte Menschen sind aktiver, kognitiv fitter, optimistischer und mit ihrem Leben zufriedener. Und in Folge haben sie auch mehr soziale Kontakte!“

Unter dem Motto „Auf in den (Un)Ruhestand“ hat Sonja Schiff (www.sonjaschiff.com) einen e-learning-Kursus entwickelt. Regelmäßig schreibt die Buchautorin auch Blogbeiträge zum Thema. Ihr Motto: „Lass uns das Älterwerden rocken!“