Helgoland. Einst als „armselig“ geschmäht, überrascht das Eiland heute mit großer Pflanzenvielfalt. Hier wächst, was andernorts nicht existiert.

Schon im 19. Jahrhundert wurde Helgoland botanisch erforscht. Es gibt Darstellungen der Insel-Flora von Friedrich Hoffmann, Paul Knuth und Paul Ascherson. Die Insel war seinerzeit beliebter Badeort und wurde auch deshalb von Forschern gerne besucht. Fast eine Frechheit ist dagegen die Einschätzung der Wissenschaftler: Die Flora sei ein „armseliger Abkömmling der deutschen Festlandküste“.

Heute überrascht die Insel Botaniker mit spannenden Funden. Die besonderen klimatischen Verhältnisse, die Lage in der manchmal rauen Nordsee und die wechselhafte Geschichte haben die Vegetation der Insel geprägt.

Auf Helgoland wächst, was andernorts nicht existiert

Ein Mix unterschiedlichster Gewächse ist heute auf der Insel zu finden. „Inzwischen sind etwa 1000 Arten nachgewiesen worden“, sagt Diplom-Biologin Katrin Fabricius. Darunter frostempfindliche Nutzpflanzen, angeschwemmtes Grün von anderen Küsten und Mitgebrachtes von Vögeln. Fabricius und Jürgen Hebbel sind regelmäßig auf Helgoland, um die Botanik der Insel zu erkunden.

Der Klippenkohl ist eine Spezialität auf Helgoland.
Der Klippenkohl ist eine Spezialität auf Helgoland. © picture alliance / Hinrich Bäsemann | Hinrich Bäsemann

Während der Veranstaltungsreihe „Helgoländer Geschichten - eine Insel im Wandel“ hielten sie nun auf Einladung von Rainer Adomat vom Heimatverband für den Kreis Pinneberg und Edelgard Heim, Leiterin der Integrierten Station Unterelbe im Elbmarschenhaus, in einem Vortrag im Pinneberger Rathaus. Dabei gaben sie interessante Einblicke in diese spezielle Pflanzenwelt.

„Besonders ist das milde Klima der Insel. Kälteempfindliche Ziergehölze wie die dekorative Klebsame oder der berühmte Maulbeerbaum können ganzjährig im Freiland kultiviert werden“, sagt Hebbel. Allerdings brauche es geschützte Ecken, denn der Wind wehe immer ein bis zwei Windstärken stärker als an den Festlandküsten. Und sorgt für eine salzige Luft. Am Fuß der Klippen befinden sich zudem Spülsäume und Fragmente von Salzwiesen mit typischen Salzpflanzen wie Milchkraut, Strand-Nelke und Salz-Schuppenmiere.

Selbst Exoten trotzen tapfer dem Wind

Artenarm ist hingegen das Oberland, das hauptsächlich von Grünland bedeckt ist. Doch es finden sich auch Labkraut, Wiesenmargariten und Strandhafer. Es gibt dichte Bestände von Pfeilkresse. Wegen des starken Seewinds kommen Gehölze nur in der Mulde des Fanggartens der Vogelwarte sowie gepflanzt im Mittelland vor. Am Golf- und Grillteich lassen sich Schmuckschildkröten beobachten, die jemand dort ausgesetzt hat.

Als Strandbefestigung wurde Kartoffelrose angepflanzt. Der Großteil der Düne besteht aus Grau- und Weißdünen sowie Sanddorn. Auf der Aade im Südosten der Düne wird der Spülsaum von Kali-Salzkrautmund besiedelt. Strandkamille und Meeressenf gedeihen im Sand. Letzteres hat sich mit Exoten vergesellschaftet: Neben dem Restaurant sind ausgepflanzte japanische Hanfpalmen zu finden, die tapfer dem Wind trotzen. „Ansonsten findet sich Gewöhnlicher Hornklee, Ackerwinde, Gänsefingerkraut und Acker-Gänsedistel“, sagt Hebbel.

Sanddorn ist hochinvasiv und überwuchert andere Pflanzen

An den steilen Klippen wächst Klippenkohl, eine Urform des Kohls, der sonst an den atlantischen Steilküsten zu finden ist. In Deutschland wächst er fast ausschließlich auf Helgoland. „Er ist essbar und bildet Stämme ähnlich wie beim Rosenkohl“, sagt Katrin Fabricius.

Zu den jüngeren Pflänzchen zählt die Pfeilkresse. Sie wurde erst 1910 auf der Insel entdeckt. Heute kommt sie flächendeckend vor. Der Wurzelkriechpionier ist eigentlich nicht in Deutschland heimisch und wurde während des Festungsbaus vermutlich mit dem Baumaterial eingeschleppt, so die Experten.

Auch der Sanddorn auf der Düne wurde erst im 19. Jahrhundert zur Befestigung angepflanzt. Die hochinvasive Art breitet sich stark aus und überwuchert auch andere Arten. Ihre Beeren dienen allerdings den Zugvögeln als Nahrung.

Verwilderte Gartenpflanzen, die aus Abfällen stammen oder über den Gartenzaun hinweg wanderten, lassen sich ebenfalls finden. Die Spornblume zum Beispiel, wunderschön rot blühend, breitet sich seit dem Jahr 2000 aus.

Einmalig sind die großflächigen Teppiche von Zwergmispeln

Die blau blühende Wegwarte, so genannt, weil sie in Mitteleuropa häufig an Wegrändern wächst, erreicht auf Helgoland ungewöhnliche Höhen. „Bis zu anderthalb Meter wird sie hier groß“, sagt die Biologin. Sie stammt aus alter Kultur, wurde als Wurzelzichorie Mitte des 19. Jahrhunderts angebaut und als Kaffee-Ersatz genutzt. Die Gemeine Wegwarte war „Heilpflanze des Jahres 2020“, bereits 2005 „Gemüse des Jahres“ und 2009 „Blume des Jahres“ in Deutschland. Auch der Fenchel wird mit zwei Metern ungewöhnlich groß.

Pfeilkresse breitet sich stark auf dem Oberland aus.
Pfeilkresse breitet sich stark auf dem Oberland aus. © picture alliance / blickwinkel/F. Hecker | F. Hecker

Großflächige Teppiche von Zwergmispeln – ursprünglich im östlichen Asien beheimatet – klammern sich an die Hänge. Ihre Beeren leuchten rot im Herbst. „In dieser Ausdehnung ist das einmalig in Deutschland“, sagt Karin Fabricius. Ebenfalls an Steilhängen findet sich Silber-Greiskraut. Die gelb blühende Pflanze hat ihre Heimat am Mittelmeer und wurde nach England eingebürgert, wo sie an Küstenfelsen wachsen.

Die Gespenst-Gelbdolde wurde erstmals 2014 auf Helgoland bemerkt. „Sie wurde bewusst auf die Insel gebracht“, so die Expertin. Eine in Deutschland einmalige Einbürgerung. Die nach Sellerie riechenden unterirdischen Pflanzenteile, Laubblätter und junge Sprosse können als Salat oder Gemüse genutzt werden.

Samen reisen übers Meer ein oder kommen per Flugkurier

Andere Pflanzen werden unbewusst eingeschleppt, reisen an Schuhsohlen oder mit Baumaterial ein, wie der Dreikraut-Lauch, auch Glöckchen-Lauch genannt. Er wurde einmalig 2021 an drei Standorten auf der Insel bemerkt. Als verschollen galt die Schmalköpfige Distel, die zuletzt vor 100 Jahren an der Westküste Schleswig-Holsteins gesehen wurde. In den Jahren 2021 und 2022 registrierten Pflanzenkenner sie auf Helgoland.

Wenn das Spülmittel ausgeht, sollte man die Mauerfugen nach den Mauerglaskraut absuchen. In Schleswig-Holstein selten, wächst es auf der Nordseeinsel. „Früher wurde es zum Reinigen von Geschirr und Glas verwendet“, sagt Jürgen Hebbel. Rätselhaft ist, wie es der Dreiblütige Nachtschatten vom Rhein auf die Insel schaffte.

Während einige Früchte und Samen mit der Gezeitenströmung einwandern, werden andere von Vögeln im Gefieder mitgebracht oder ausgeschieden. „Das funktioniert nur über kurze Distanzen“, sagt Hebbel. So hat Meerkohl schwimmfähige Samen und wächst seit 2000 auf Helgoland.

Viele Samen brachten auch Touristen mit

Auch die schnurartigen Früchte des Meerfenchel sind Langstreckenschwimmer. Einmalig 1937 registriert, taucht er seit 20 Jahren wieder auf. Gelber Hornmohn aus dem Mittelmeer wurde nur kurz 1952 gesehen und verschwand dann wieder. Felsen-Strandflieder kommt erst seit 2013 vor und wurde womöglich von Möwen mitgebracht. Auch das Klippen-Leimkraut ist in der Nähe einer Möwenkolonie erstmals 2020 an schwer zugänglichen Stellen aufgetaucht.

Für andere Mitbringsel ist keine natürliche Herkunft denkbar. „Sie wurden bewusst eingebracht. In der Biologie nennen wir das Aussalbung“, sagt Katrin Fabricius. Dies kann ungewollt die heimische Flora in Bedrängnis bringen. Neben dem Bitterling auf dem Mittelland gehört auch der Bienen-Ragwurz dazu. Die Orchidee kommt in kleinen Beständen im Mittelgebirge vor, seit 2016 auch auf Helgoland.

Auch von Menschen mitgebracht: die Gold-Distel, Übersehendes Knabenkraut – und gefleckte Weinbergschnecken. „Sie ist frostempfindlicher als unsere Weinbergschnecken und in Frankreich häufig gezüchtet“, sagt die Expertin. Vielleicht hat sie ein Tierfreund aus einem Restaurant gerettet.

Das Wunder von Helgoland – der Maulbeerbaum

Der alte Maulbeerbaum nahe dem Einstieg zum Schutzbunker auf dem Oberland ist etwas unscheinbar. Und trotzdem ist er nicht weniger als: das Wunder von Helgoland. Weil er als einziger Baum den Granatenhagel im und nach dem Zweiten Weltkrieg überstand. Tonnenweise Bomben warfen die Briten auf die Insel. Doch das Bäumchen hielt stand, wenn er auch nicht unversehrt blieb. Dennoch überlebte er die Operation „Big Bang“ am 18. April 1947, bei der die Briten 6700 Tonnen Munition und die Militäranlagen Helgolands in die Luft sprengten.

Die Früchte des Maulbeerbaums sind essbar.
Die Früchte des Maulbeerbaums sind essbar. © picture alliance / CHROMORANGE | Ernst Weingartner

Fast zerstört, bekam der rund 150 Jahre alte Stumpf wieder frische Triebe. Als die ersten Helgoländer auf ihre komplett zerstörte Insel zurückkehrten und die ersten Sprösslinge sahen, gab ihnen das Mut und Hoffnung für den Wiederaufbau.

Ein Schild direkt am Maulbeerbaum in der Kirchenstraße erläutert: „Der Helgoländer Maulbeerbaum (Morus) gehört zur Gattung der Maulbeergewächse, von denen es insgesamt zwölf Arten gibt. Sein Verbreitungsgebiet liegt in der nördlichen gemäßigten und in der subtropischen Vegetationszone, also in den wärmeren Gegenden der Erde. Durch das vom Golfstrom begünstigte milde Klima Helgolands wächst und gedeiht der Maulbeerbaum seit rund 150 Jahren auf der Insel.“

Im Frühling erfreue er die Helgoländer mit kätzchenartigen Blüten und zur Erntezeit mit wohlschmeckenden, brombeerartigen Früchten. Wegen dieser schwarzen Früchte zähle er zu den alten Kulturpflanzen der Menschheit.

Der Maulbeerbaum wurde schon im 19. Jahrhundert viel beschrieben und bedichtet. Das Gewächs stand früher im alten Pastorat und „beschirmte“ bis 1900 – vor Einführung der Zivilehe – verliebte Paare, die ohne Aufgebot und Formalitäten schnell heiraten wollten. Deshalb war Helgoland früher auch als „Liebesinsel“ bekannt, wie eine Broschüre „Kultur erleben auf Helgoland“ der Helgoland Touristik verrät.