Helgoland. Seit 1930 gilt das Tier in der Nordsee als ausgestorben. Wissenschaftler wollen sie wieder ansiedeln. Anscheinend gibt es Hoffnung.
Sie ist nur wenige Zentimeter groß, spielt aber eine gewichtige Rolle. Sie filtert 240 Liter Meerwasser am Tag, verringert die toxische Algenblüte und verbessert die Wasserqualität. Sie bildet biogene Riffe, bietet Lebensraum und Nahrungsangebot für besonders artenreiche Tier- und Pflanzengemeinschaften. Indem sie lose Sedimente festigt, schützt sie die Küsten.
„Die Europäische Auster ist eine ökologische Schlüsselart“, sagt Bernadette Pogoda. Die Wissenschaftlerin am Alfred-Wegener-Institut (AWI) Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und am Standort Helgoland leitet das Wiederansiedlungsprojekt für die Europäische Auster. „Damit sind sie ökologisch so bedeutsam wie Korallenriffe in den Tropen.“
Europäische Auster war komplett aus Nordsee verschwunden
Um die Art zu schützen, werden seit 2016 erstmalig Methoden und Verfahren zur Wiederansiedlung der Europäischen Auster (Ostrea edulis) in der deutschen Nordsee entwickelt und getestet. Auf der Insel Helgoland werden Jungmuscheln für die Wiederansiedlung aufgezogen.
Durch einen über Jahrhunderte andauernden, massiven Fischereidruck kam es im Laufe des 20. Jahrhunderts europaweit zu einem Zusammenbruch der Austernpopulationen. Für die deutschen Meeresgebiete ist belegt, dass die ursprünglich großen Austernbestände auch hier durch Überfischung vernichtet wurden. „Wir haben keine ökologischen Daten vom gesunden Urzustand der Austernbänke, sondern nur Informationen über ihre wirtschaftliche Nutzung, Fangzeiten oder die Anzahl der Fangboote“, sagt die Meeresbiologin. Diese Daten dienen den Wissenschaftlern als ökologische Grundlinie.
Die bodenberührende Fischereitechnik haben auch vor den Küsten Schleswig-Holsteins und Niedersachsens die Vorkommen in 30 bis 40 Meter Tiefe völlig zerstört. „Eine Austernbank war nach einem Jahrzehnt vollkommen abgefischt“, sagt Pogoda. Auch weil die Babyaustern, die gern auf größeren Muscheln siedeln, keinen Untergrund mehr fanden, um sich niederzulassen. Nach einer Weile sterben sie dann.
85 Prozent aller Austernriffe weltweit sind verschwunden
Gerne gegessen und viel gefischt galt die Europäische Auster im 19. Jahrhundert als ein großer Wirtschaftsfaktor für die Norddeutsche Region. Um ihre Besiedelung in den flachen Küstengewässern zu fördern, beauftragte 1868 die preußische Regierung den Kieler Zoologie-Professor Karl August Möbius (1825-1908, „Die Auster und die Austernwirtschaft“) damit, die Muschelart näher zu untersuchen.
Dazu legte er eine umfangreiche Sammlung von Austernschalen an, die schließlich rund tausend Exemplare von der Nordsee über die atlantische Küste bis zum Mittelmeer umfasste. Seine Untersuchungen, wie sich Austern in wechselseitiger Abhängigkeit mit anderen Tieren und Pflanzen in ihrem Lebensraum entwickeln, machte Möbius zum Begründer der modernen Ökologie. „Möbius erkannte die stark wechselseitige Abhängigkeit zwischen allen Lebewesen einer Austernbank und prägte dafür den Begriff der Biozönose oder Lebensgemeinde“, sagt Pogoda. Er beschrieb auch die Austernbänke vor Helgoland.
Heute sind 85 Prozent aller Austernriffe – es gibt viele verschiedene Arten – weltweit verschwunden. Lediglich vor Südafrika gibt es noch gesunde Bestände. Vorkommen um Australien und Europa sind gänzlich verschwunden. Der Meeresboden wird immer flacher. Die Biodiversität ist schwer angeschlagen, der Meeresboden vielerorts praktisch tot. „Es ist längst nicht erforscht, welche Organismen welche Rolle spielen. Daher können wir uns nicht erlauben, Arten zu verlieren“, so Pogoda.
Aus Bundesmitteln wurde 2014 zunächst eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben für die Wiederansiedlung der Auster. 2016 gab es grünes Licht, internationale Kooperationen und Netzwerke wurden aufgebaut, rechtliche Bedingungen und mögliche Standorte für die Wiederansiedlung geprüft. Daraus ging 2016 bis 2019 das Projekt Restore hervor. Die ersten Austernbabys stammten aus einer Zucht in Frankreich, aufgezogen in künstlichem Meerwasser. „So konnte nichts in die Nordsee eingeschleppt werden“, sagt Pogoda.
Nach kurzer Zeit vermehrten sich die Austern in Nordsee
Für das Feldexperiment wurden zwischen den Sockeln der Windkrafträder im Offshore-Park vor Helgoland Austernkörbe in 32 Metern Tiefe angebracht. Sensoren messen Salz- und Sauerstoffgehalt sowie Wassertemperatur. Drei bis vier Mal im Jahr kontrollierten Forschungstaucher die Körbe, reinigten sie von Bewuchs, so dass die Austern ausreichend versorgt wurden.
„Das sind anspruchsvolle Tauchgänge im dunklen, trüben Wasser, die aufgrund der starken Gezeitenströmung nur bei Stauwasser möglich sind. Das Zeitfenster von anderthalb Stunden reichte für ein bis zwei Tauchgänge, ehe die Strömung zu stark wurde. Der Aufwand lohnte sich. Nach vier Wochen waren die Zwei-Millimeter-Winzlinge schon zwei Zentimeter groß. „Ein riesiger Erfolg, weil klar war, dass die Austern in der Nordsee sehr gut wachsen“, sagt sie.
Nach einigen Monaten entdeckten die Wissenschaftler erste Austernlarven. Die Austern hatten sich fortgepflanzt. Im Gegensatz zur Pazifischen Auster, die Eier und Spermien ins Wasser abgibt, strudeln die weiblichen Europäischen Auster zur Befruchtung ihrer bis zu drei Millionen Eier mit dem Atemwasser Samenzellen ein und verwahren die Eier in ihrer Kiemenhöhle, bis nach zwei Wochen die Larven schlüpfen.
„Wir sind begeistert, wie schnell sich Lebensgemeinschaften wieder einstellen“, sagt Pogoda. Innerhalb weniger Wochen und Monate hätten sich Meeresnacktschnecken, kleine Anemonen und Kalkrohrwürmer etabliert. Auch Fische werden von den Austern angezogen. „Steinpicker und Butterfisch haben direkt dort gelaicht.“
Austern siedeln lieber auf Kalkschalen als auf Steinen
Das Projekt wurde ausgeweitet. Im Juli 2020 wurden rund 100.000 junge, wenige Millimeter große Europäische Austern in einem Meeresschutzgebiet vor der ostfriesischen Insel Borkum auf einem ausgelegten Gestein ausgesetzt. Das 100 Quadratmeter große Pilotriff wird aus Mitteln vom Bundesamt für Naturschutz gefördert und läuft als Projekt Restore zunächst bis 2025. Im nächsten Schritt soll ein Hektar großes Gebiet wiederbesiedelt werden.
Vor Helgoland hängen die Referenzkörbe bis heute im Wasser, und auf der Insel wird weiter an der Austernzucht geforscht, um sie zu optimieren. In den Hallen stehen große Bioreaktoren mit Grün-, Braun- und Rotalgen – Futter für die Austern. So konnten 2021 rund 32 Millionen Larven gezüchtet werden. Ein Jahr später, mit der Corona-Pandemie, brach der Erfolg ein, auch weil internationale Mitarbeiter fehlten. Schon jetzt ist klar, dass die Austern lieber auf Kalkschalen siedeln als auf Steinen. Der Fokus liegt nun auf der Spat-on-Shell-Methode. Babyaustern auf Muschelschalen werden in Jutesäcken ins Meer gelassen, damit sie nicht von der Strömung fortgerissen werden.
Die Austern, die heute in Restaurants serviert werden, sind in der Regel Pazifische Austern. Sie kommen auch in der Nordsee vor. Die invasive Art besetzt aber eine andere ökologische Nische als die Europäische Auster und wird ihr somit nicht gefährlich. „Sie bildet im Gezeitenbereich Riffe.“ In tieferen Gewässern sei sie noch nicht gesehen worden. Experten hatten befürchtet, dass die Pazifische Auster die Miesmuscheln im Wattenmeer verdrängt. „Es sieht aber so aus, als hätte sich ihre Anzahl nicht verringert, sondern lediglich ihre Größe, weil sie zwischen den Austern nicht so wachsen können“, sagt Pogoda.
Während es bei Pazifischen Austern, die vor allem in Frankreich für den Verzehr gezüchtet werden, vorrangig um Größe und schnelles Wachstum geht, spielt bei der Zucht der Europäischen Auster die genetische Vielfalt eine wichtige Rolle. Mit ihr erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Anpassung an die Folgen des Klimawandels.