Helgoland. Heute vor 70 Jahren startete der Wiederaufbau der völlig zerbombten Hochseeinsel. Zeitzeugen berichten vom schwierigen Beginn.

Es sei vor allem der Initiative der Helgoländer und Kreispolitikern wie Landrat Hermann Schinkel zu verdanken, dass die Briten Helgoland am 1. März 1952 den Deutschen zurückgaben. „Die Helgoländer konnten und wollten ihre Insel nicht aufgeben“, sagt Historiker Martin Krieger. Er hat die wechselvolle Geschichte der Hochseeinsel in einem Buch zusammengefasst und wird in der Drostei in Pinneberg zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Helgoländer Geschichte(n) – eine Insel im Wandel“ am 31. März über die Jahre 1932 bis 1952 sprechen.

„Auch die Briten wollten die Insel niemals vollständig zerstören, sondern militärisch unschädlich machen“, sagt der Professor für Nordeuropäische Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Den Mythos, der sich indes um die Besetzung der Insel durch die Heidelberger Studenten René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld entspann, hält er für übertrieben. Nachdem die Helgoland-Frage mehrfach im Kreistag Pinneberg und im Landtag Schleswig-Holstein diskutiert worden war, widmeten sich auch der Bundestag und das britische Unterhaus dem Thema ab 1949 regelmäßig. „Die Briten waren sich keinesfalls einig“, sagt Krieger.

Helgoland lag nach dem „Big Bang“ in Schutt und Asche

Immer wieder setzte sich das britische Hauptquartier für Norddeutschland gegenüber der Royal Air Force für die deutschen Belange ein, indem es etwa forderte, die Bombenabwürfe, die auch nach dem „Big Bang“ – der Sprengung der Insel – weitergingen, auf bestimmte Stunden zu beschränken, damit die Fischer in den reichen Gründen vor Helgoland fischen konnten. Alle Bemühungen gipfelten in der Übergabe am 1. März 1952. Der Bund stellte sogar zusätzliche öffentliche Mittel für den Wiederaufbau Helgolands bereit, obwohl weite Teile Deutschlands in Schutt und Asche lagen.

Der Flakturm, heute als Leuchtturm für die Deutsche Bucht in Betrieb, war das einzige unzerstörte Bauwerk auf dem Oberland.
Der Flakturm, heute als Leuchtturm für die Deutsche Bucht in Betrieb, war das einzige unzerstörte Bauwerk auf dem Oberland. © Kurverwaltung Helgoland


„Mein Vater hat die Trümmerräumung geleitet“, sagt Susann Balz aus Pinneberg. Im Dezember 1951 war Günther Winkler zum ersten Mal auf der Insel, um den Schaden für die Kreisverwaltung zu sichten. Lediglich der Flakturm und Reste der Biologischen Anstalt standen noch. Später wurde der Ingenieur Leitender Kreisbaudirektor.

Susann Balz aus Pinneberg besuchte ihren Vater Günther Winkler zwischen 1953 bis 1955 in den Ferien auf Helgoland.
Susann Balz aus Pinneberg besuchte ihren Vater Günther Winkler zwischen 1953 bis 1955 in den Ferien auf Helgoland. © Anne Dewitz

„Mein Vater hat viel von dieser Zeit auf Helgoland erzählt“, sagt Balz. In seinem Nachlass finden sich etliche Fotos. Alle paar Wochen kehrte er heim. Zwischendurch telefonierten sie über die Küstenfunkstelle Norddeich-Radio. Die Familie besuchte den Vater zwischen 1953 und 1955 immer in den Pfingst- und Sommerferien, lebte mit ihm in einer Baracke. Für sie und ihre Schwester Kristina sei die Insel ein Abenteuerparadies gewesen.

Doris Nahser-Riek zog in eins der ersten Versuchshäuser

Doris Nahser-Riek kam 1954 mit sieben Jahren zurück nach Helgoland. Sie zog mit ihren Großeltern und der Schwester (5) in eines der ersten Versuchshäuser in der Bremer Straße. Das Grundstück gehörte der Familie. Bis dahin lebten sie in einer Baracke. „Alles lag in Trümmern“, erinnert die Hamburgerin.

Bäume zum Klettern gab es nicht. Nur der Maulbeerbaum, der heute noch auf dem Oberland steht, hatte dem Bombenhagel Stand gehalten. „Wir spielten zwischen Ruinen und Baustoffen.“ Überall lagen Blindgänger. Einmal wollten sie als Kinder einen zerstörten Bunker erkunden. „Das war natürlich verboten“, sagt sie. Als sie auf einen Stahlhelm und einen Schuh stießen, war ihnen unheimlich und sie kehrten um. Nach und nach eröffneten Bäcker, ein Tante-Emma-Laden, später ein Schlachter und Fischgeschäft. Andere Waren wurden über Kataloge bestellt.

Der Wiederaufbau beginnt: An der Bremer Straße auf Helgoland stehen 1954 die ersten neuen Wohnhäuser.
Der Wiederaufbau beginnt: An der Bremer Straße auf Helgoland stehen 1954 die ersten neuen Wohnhäuser. © Kurverwaltung Helgoland

Die wenigen Häuser wurden mit einer Mauer aus Strohballen vor Bombensplittern geschützt, dahinter wühlten Bagger die Erde auf. „Wir mussten nachts mehrmals das Haus zu unserer eigenen Sicherheit Richtung Südhafen verlassen“, sagt die 74-Jährige. Trainingshose und Pullover lagen griffbereit neben dem Bett und wurden schnell über den Pyjama gezogen. In der Kantine für die Arbeiter warteten sie auf das Zeichen, dass sie wieder in ihr Haus zurückkehren durften.

Viel Geld hatte die Familie nicht. „So ging es damals allen“, sagt sie. „Es war normal, sich bei Nachbarn Zucker oder Kaffee zu borgen.“ Der Zusammenhalt unter den Helgoländern sei wie in einer großen Familie gewesen. Die Mutter arbeitet später in der Küche des Krankenhauses und die Familie vermietet ein Zimmer an Fremde. „Dann mussten wir Kinder in der Badewanne oder auf einer Luftmatratze schlafen“, sagt Nahser-Riek. Mit 16 Jahren verließ sie Pinnebergs Außenposten in der Nordsee, um in Hamburg Krankenschwester zu lernen. Doch sie kehrte immer wieder zurück, auch weil ihre Mutter bis zu ihrem Tod im Januar 2021 dort lebte.

Bei der Bombenräumung wurden die neuen Häuser mit einer Mauer aus Strohballe geschützt.
Bei der Bombenräumung wurden die neuen Häuser mit einer Mauer aus Strohballe geschützt. © Kurverwaltung Helgoland

Zimmermänner arbeiteten im Akkord am Wiederaufbau

Luise Knaack aus Rellingen kann aus zweiter Hand berichten, ihr verstorbener Bruder Klaus half als Zimmermann auf Helgoland beim Wiederaufbau. „Er hat 1953 bei Gerdes in Schenefeld seine Lehre angefangen“, sagt die 86-Jährige. „Mein Bruder muss damals 18 Jahre alt gewesen sein, als er 1954 oder 1955 mit einer Schute rüber ist.“ Eine Bäckerei hätten er und seine Kollegen aufgebaut und in Baracken mit Doppelstockbetten geschlafen. Sie hätten viele Überstunden machen müssen und abends Fußball oder Karten gespielt, gern auch das ein oder andere Bier zusammen getrunken.

Das Barackenlager 1953: Neben den Unterkünften für die Arbeiter waren Küche und Kantine einschließlich Verkaufsladen untergebracht.
Das Barackenlager 1953: Neben den Unterkünften für die Arbeiter waren Küche und Kantine einschließlich Verkaufsladen untergebracht. © Günther Winkler

„Anderthalb Jahre war Klaus auf Helgoland“, sagt Knaack. „Ich glaube, für ihn war das ein Abenteuer.“ Seine schmutzige Wäsche schickte er im Paket nach Hause. „Meine Mutter musste es am Dammtor beim Zoll abholen“, erinnert sie sich. „Einmal musste sie das Paket öffnen. Danach wurde sie am Zoll immer schnell durchgewunken.“ Die verdreckten Sachen hätten so gestunken, dass kein Zollbeamter sich dem noch einmal aussetzen wollte.

Günther Bartels war 1959 zu Straßenbauarbeiten auf Helgoland. Noch heute weiß er, wie seekrank er auf der Überfahrt von Cuxhaven nach Helgoland am 20. Februar 1959 wurde. Stürmisch war es, die Wellen türmten sich. Etliche Baumaterialien gingen über Bord. Vier oder fünf Stunden dauerte die Odyssee auf dem alten Stahlschiff. „Auf dem Oberland hielten sie schon nach uns Ausschau“, sagt der Wedeler. „Die befürchteten, wir wären abgesoffen.“

Sprengmeister nahm versehentlich zu viel Sprengstoff

Bartels war damals 22 Jahre alt, als er für drei Monate für die Firma Helmut Schwarz Geesthacht als Steinsetzer auf die Insel kam „Wir haben Akkord gearbeitet, täglich einschließlich sonnabends zwölf Stunden, und sonntags bis Mittag“, so der heute 84-Jährige, während er die Schwarz-Weiß-Bilder sichtet. Gutes Geld gab es dafür. „Wir haben mehr verdient als die Bauführer.“ Er trug Zunftkleidung, das sei ihm wichtig gewesen.

Günther Bartels aus Wedel war 1959 zu Straßenarbeiten auf Helgoland, hat dort drei Monate als junger Steinsetzer gearbeitet.
Günther Bartels aus Wedel war 1959 zu Straßenarbeiten auf Helgoland, hat dort drei Monate als junger Steinsetzer gearbeitet. © Anne Dewitz

Während sie im Unterland erste Straßen aus Granitsteinen pflasterten, sei im Oberland noch alles zerbombt gewesen. „Das war ein Trümmerfeld“, sagt Bartels. Die Zuwegung zur Klinik wurde unter Scheinwerferlicht an mehreren Tagen bis 23 Uhr gelegt. Mittags aßen die Arbeiter in der Kantine, die in einer Holzbaracke eingerichtet war.

„Einmal polterte es fürchterlich auf dem Dach“, so Bartels. Die Reste des U-Boot-Bunkers sollten gesprengt werden und der Sprengmeister, von seinen Kollegen liebevoll Jan Doornkaart genannt, weil er gern den gleichnamigen Korn trank, hatte zu viel Sprengstoff benutzt. Betonreste schleuderten bis aufs Dach der Kantine. „Es wurde aber nur leicht beschädigt.“

Günther Bartels (2.v.r.) und Kollegen gingen Sonntagnachmittag nach der Arbeit gern ins Café.
Günther Bartels (2.v.r.) und Kollegen gingen Sonntagnachmittag nach der Arbeit gern ins Café. © Günther Bartels

Viel Freizeit hatten sie nicht, aber Sonntagnachmittag zogen sich die jungen Männer um und ließen im Gasthaus bei Kaffee und Bier den Tag ausklingen. „An einem Tag im März fand ein großes Fest auf der Insel statt“, sagt Bartels. Die Helgoländer feierten die siebte Wiederkehr ihrer geliebten Insel.

Eine Kindheit auf Helgoland: "Wir spielten in Bombentrichtern"

„Wir waren nach der Zerstörung die ersten Kinder auf der Insel“, sagt Helga Matthäs aus Hessen. Sie kam 1953 mit zwei Jahren nach Helgoland. Ihr Vater Johann Wessels, von allen Mück genannt, war Helgoländer Hummerfischer und ein Original. „Im ersten Jahr haben wir im Boot im Bunkerhafen gewohnt“, sagt Matthäs, die bis 1969 auf Helgoland lebte.

Sie und ihr damals vierjähriger Bruder Siebo waren die ersten Kinder, die nach der Freigabe wieder einen Fuß auf die Insel setzten. Ihre Mutter, geflüchtet aus Pommern, hatte den Vater in Büsum kennengelernt. Von dort war das Ehepaar mit ihren beiden kleinen Kindern 1953 nach Helgoland gekommen. Dort gab es reichlich Fisch.

Die ganze Familie fuhr bei gutem Wetter zu den Hummerkörben

Bei gutem Wetter fuhr die ganze Familie zum Fischen raus und holte die Hummerkörbe ein. Bei schlechtem warteten sie in der Arbeiter-Kantine auf die Rückkehr des Vaters. Während Helga Matthäs häufig seekrank wurde, fuhr ihr Bruder auch später noch immer mit dem Vater raus. Auf dem kleinen Holzboot spielte sich alles ab. Die Mutter kochte auf einem Gaskocher, wusch Wäsche von Hand in einem Eimer und nähte Kleidung für die Kinder.

Familie Wessels lebte zunächst auf dem Boot im Bunkerhafen.
Familie Wessels lebte zunächst auf dem Boot im Bunkerhafen. © Wessels | Privat

Nach einem Jahr zog die Familie in eine Hummerbude. Eine Toilette gab es nicht, man verrichtete sein Geschäft auf einem Eimer. Ein Vorhang trennte das Doppelstockbett der Kinder von der Schlafcouch der Eltern. Erst 1960 konnten sie in ein Haus mit fließend Wasser ziehen.

Der Vater schoss oft Möwen für den Kochtopf, „aber nur die Dreizehenmöwen, weil die kein Aas fraßen, sondern Fisch“, erinnert sich Matthäs. Ihr dunkles Fleisch galt damals weit verbreitet als Spezialität. „Manchmal erlegte er hundert Stück am Tag und verkaufte sie.“

Kinder verkauften in Helgolandtrachten Seeigel und Krabben

Später, als die ersten Touristen auf die Insel kamen, verkaufte die Familie neben Hummern und Fisch auch präparierte Seeigel und -sterne. „Mein Bruder und ich mussten in den Helgoländer Trachten mit dem Bauchladen am Kai stehen. Das gefiel uns gar nicht“, erzählt die heute 71-Jährige.

Wenn die Stare auf Durchzug angezogen vom Licht des Leuchtturms gegen die Fenster flogen, sammelten Helga und ihr Bruder die Vögel ein. „Wir aßen auch Lummen und natürlich viel Fisch“, sagt sie. Hin und wieder steckten die Arbeiter oder Polizisten den Kindern Bonbons zu. „Das war für uns eine Feierlichkeit“, erinnert Matthäs.

Die kleine Helga Wessels mit ihrer Mutter auf ihrem Boot im Bunkerhafen.
Die kleine Helga Wessels mit ihrer Mutter auf ihrem Boot im Bunkerhafen. © Privat

Trotz der Armut sei ihre Kindheit zwischen Bombentrichtern und Trümmern wunderbar gewesen. „Wir waren frei, spielten in den Bombentrichtern und mit dem Geschirr und Besteck, das wir im Schutt fanden.“ Es habe auch viele Ratten gegeben, denen sie Namen gaben, als wären sie Spielkameraden. Nach und nach eröffneten Bäcker, Schlachter, ein Tante-Emma-Laden auf der Insel. Und es kamen weitere Kinder. Eine Schule mit zwei Klassen nahm den Betrieb auf.

Geschwister und ihre Familien kehren immer wieder zurück

Ihr Vater, den sie auch den Hexer nannten, weil er Sterne und Mond zu deuten wusste und Stürme sicher vorhersagen konnte, saß noch im hohen Alter vor „seiner“ Hummerbude – heute das Büro des Hafenmeisters – und begrüßte die Touristen mit lustigen Sprüchen. „Er wurde 94 Jahre alt, während meine Mutter leider viel zu früh mit 60 Jahren starb“, sagt Matthäs, die auf dem Oberland Friseurin lernte, ehe sie ihrem Mann nach Büdingen in Hessen folgte.

Helga und ihr Bruder Siebo verkaufen Krabben, Seeigel und Seesterne.
Helga und ihr Bruder Siebo verkaufen Krabben, Seeigel und Seesterne. © Privat

Das Paar, ihre drei Kinder und fünf Enkel verbringen jedes Jahr mehrere Wochen im Elternhaus auf der Insel. Auch ihr Bruder, der als Kapitän zu See fuhr, kehrt immer wieder zurück.