Kreis Pinneberg. Der Türke Uysal Ince liegt seit mehr als einem Jahr im Wachkoma. Seine Familie will ihm beistehen – doch das Amt weist sie aus.

Diese Familientragödie bedeutet nicht nur privates Leid – sie lässt den Kreis Pinneberg auch in einem schlechten Licht dastehen. Nicht grundlos wird die Ausländerbehörde des Kreises wegen ihrer strikten und nach außen unbarmherzig wirkenden Auslegung der Rechtslage von anderen Medien bereits „Herzlos-Kreis Pinneberg“ genannt. Denn zweimal schon zwang das Amt Menschen zur Ausreise, obwohl sie am Krankenbett ihres engen, schwerkranken Angehörigen wachen wollten.

Nun hat sich die Kreispolitik eingeschaltet und fordert neben der Aufklärung des Sachverhalts die Verwaltung auf, künftig mehr „Humanität und Menschlichkeit“ walten zu lassen, wie Klaus-Dieter Brügmann, Vizefraktionschef der Linken, schreibt. Auch SPD-Fraktionschef Hans-Peter Stahl bittet Landrätin Elfi Heesch, „eine humanitäre Lösung zu finden.“ Heesch selbst zeigt auf Nachfrage zwar Verständnis „für das sehr tragische Schicksal“ der betroffenen Familie. Doch die Gesetzeslage habe der Ausländerbehörde keinen Spielraum gelassen, anders vorzugehen.

Vater liegt seit einem Unfall im Koma – Familie kam nach Deutschland

Was war geschehen? Der türkische Staatsbürger Uysal Ince war Ende 2020 schuldlos bei einem Verkehrsunfall auf der A1 bei Stapelfeld schwer verletzt worden. Der damals 61 Jahre alte Bauarbeiter, der für eine Firma in Tornesch gearbeitet hat, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und wurde zunächst in einer Hamburger Unfallklinik behandelt. Dort fiel er ins Wachkoma. Ein Zustand, in dem er sich weiterhin befindet. Seit etwa einem halben Jahr wird der schwerverletzte Mann in einer Einrichtung in Wedel versorgt.

Sein Sohn Mehmet eilte aus der Türkei nach Deutschland, um seinem Vater beizustehen, zunächst in Hamburg, dann in Wedel. Er war mit einem Touristenvisum eingereist, das im Juni abgelaufen war. Deshalb forderte ihn die Pinneberger Ausländerbehörde auf, Deutschland zu verlassen, was er auch tat. Daraufhin reiste Hörü Ince, die Ehefrau des Koma-Patienten, mit einem drei Monate gültigen Touristenvisum ein. Die Frist lief Ende November 2021 ab. Auch darüber informierte die Kreisverwaltung die Angehörige und erläuterte ihr die Rechtslage in einem persönlichen Gespräch im Kreishaus im Dezember, sagt Landrätin Heesch. „Um erneut einzureisen, müsste sie in ihrem Heimatland bei der dortigen Auslandsvertretung, also der deutschen Botschaft oder dem Konsulat, ein Visum beantragen“, so die Landrätin. Sie sei dann aber ausgereist.

Touristenvisum für Familie des Unfallopfers galt nur für 90 Tage

Der Haken: Die Ehefrau könnte erst nach drei Monaten wieder nach Deutschland einreisen, da ein Aufenthalt immer auf 90 Tage innerhalb eines Zeitraumes von 180 Tagen gesetzlich beschränkt sei, so die Kreisverwaltung. Für Visa seien grundsätzlich die Auslandsvertretungen zuständig. Nur diese stellten die Genehmigungen aus.

Um eine Visumsverlängerung zu ermöglichen, müssten bestimmte Bedingungen erfüllt sein, teilt die Kreisverwaltung weiter mit. Ob in diesem Fall die Verlängerung der Visa-Bescheinigungen möglich gewesen wäre, „ist von Seiten der Ausländerbehörde mehrfach geprüft worden“, so Landrätin Heesch. Doch „die bis dahin vorgelegten Unterlagen haben die nötigen Voraussetzungen nicht erfüllt.“

Dennoch sei eine Rückkehr der Angehörigen des Koma-Patienten nach Deutschland möglich. Über die Visumsvergabe entscheide aber „einzig und allein die jeweilige Auslandsvertretung im Heimatland der Antragstellenden. Eine Ausländerbehörde wird dabei nicht einbezogen“, so die Kreisverwaltung auf Abendblatt-Anfrage. „Die Ausländerbehörde ist nicht in den Prozess der Visumserteilung eingebunden. Die Entscheidung, ob und für wie lange ein Visum erteilt wird, trifft ausschließlich die deutsche Auslandsvertretung im Herkunftsland.“

Landrätin: Fall ist tragisch – aber Behörde hat sich an Rechtslage gehalten

Landrätin Heesch: „Es handelt sich hier um einen sehr tragischen Fall. Dabei steht außer Frage, dass es für die Familie wichtig ist, ihrem Angehörigen beizustehen. Aber die Bedingungen für eine Verlängerung des Aufenthalts waren zum damaligen Zeitpunkt nicht gegeben.“ Dazu habe es mit der Ehefrau Mitte Dezember auch einen Austausch im Kreishaus gegeben. „Zu einem weiteren Gesprächstermin ist es dann nicht mehr gekommen.“ Hörü Ince reiste wieder in ihre Heimat zurück.

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Dass die Kreisverwaltung Pinneberg nun wegen der behördlichen Einhaltung der Rechtslage als „herzlos“ gescholten wird, „ist nicht angenehm“, findet Landrätin Heesch. „Besonders trifft es aber die beteiligten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Das Schicksal der Familie Ince ist sehr tragisch. Allen handelnden Personen ist klar, dass sich die Familie um ihren im Wachkoma befindlichen Angehörigen kümmern und für ihn da sein will.“ Die Kreispolitik sei über diesen Fall und die Entscheidungsgründe informiert worden. Allerdings erst spät.

Geduldeter Aufenthalt sei nicht möglich gewesen

Mitte Dezember, auf seine Intervention hin, sagt SPD-Fraktionschef Stahl, sei er von einer Hamburger Zeitung dazu befragt worden und „wusste von nichts“. Erst dann habe er von der Verwaltung den gesamten Vorfall erfahren. Etwa auch, dass der Sohn schon im Sommer habe ausreisen müssen. „Ich verstehe nicht, warum die Kreisverwaltung den Fall und die Entscheidungsgründe nicht offensiver nach außen getragen hat.“

Landrätin Heesch betont: „Wie bereits gegenüber der Familie Ince, aber auch gegenüber allen anderen beteiligten Parteien und Beobachtern immer wieder versichert wurde, haben die Mitarbeitenden der Ausländerbehörde von Anfang an eine einvernehmliche und zufriedenstellende Lösung für alle Beteiligten angestrebt.“ Es sei auch intensiv geprüft worden, ob alternativ eine Visumsverlängerung oder ein geduldeter Aufenthalt rechtlich möglich waren. „Für beide Varianten fehlt jedoch in diesem konkreten Fall die rechtliche Grundlage.“

Deshalb habe es laut Verwaltung auch „keinen Ermessensspielraum“ gegeben. Es sei aber auch – anders als in einigen Medien dargestellt – keine Abschiebeverordnung gegen die Familienangehörigen erlassen worden. Landrätin Heesch: „Letztlich ist festzuhalten, dass sich die tragische Situation dieser Familie eher nicht mit der Visumsfrage lösen lässt.“ Eine andere Lösung könnte „die Überführung des Ehemannes in die Türkei sein, so es der Gesundheitszustand des Ehemannes erlaubt.“

Politik fordert lückenlose Aufklärung seitens des Kreises

SPD-Fraktionschef Stahl reicht das noch nicht aus. Insbesondere möchte er wissen, ob der Familie von Seiten der Kreisverwaltung die Möglichkeit eines „Mehrfachvisums“ erläutert worden sei, das die deutsche Botschaft in der Türkei prüfen und ausstellen müsste und der Familie einen Aufenthalt von bis zu einem Jahr und länger ermöglichen würde. Zudem hält es Stahl für nicht nachvollziehbar, warum die Verlängerung der Aufenthaltsvisa nicht von Deutschland aus beantragt werden könne. „Es ist unverständlich, dass, wie in diesem Fall, Frau Ince ausreisen muss, um ein Visum für die Wiedereinreise zu erlangen. Mit dieser Regelung werden der Familie Ince Kosten aufgebürdet, die durch behördliche Vorgaben hervorgerufen werden.“

Dazu teilt die Kreisverwaltung mit, dass die Ausländerbehörde im Sommer 2021 bereits mit dem Sohn über das Thema Mehrfachvisum gesprochen habe. „Auch der Berater der Familie kannte diese Möglichkeit. Die Ausländerbehörde stand nach der Ausreise des Sohnes nicht in Kontakt mit der Familie, kannte weder weitere Mitglieder der Familie noch deren Einreiseplanungen.“