Halstenbek. Wedelerin sprach mit Oberstufenschülern des Wolfgang-Borchert-Gymnasiums über ihre Schulzeit während der NZ-Zeit.

Stille in der Aula. Die Oberstufenschüler des Wolfgang-Borchert-Gymnasiums blicken gespannt auf die Bühne. Dort, in Halstenbek, sitzt Marianne Wilke: zierlich, aufgeräumt, 92 Jahre alt. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes holt tief Luft und beginnt zu sprechen. Dass das Mikro noch nicht an ist, stört sie nicht: „Als ich sechs Jahre alt war, spielte ich draußen mit meinem Bruder. Ein Junge kam zu uns und rief: ,Meine Mutter sagt, ihr seid Juden!’ Danach rannte er weg. Mein Bruder und ich waren perplex. Wir wussten doch gar nicht, was Juden sind.“

Wilke blickt in den Saal. Jetzt ist ihr die Aufmerksamkeit der Schüler gewiss.

Als eine der letzten Zeitzeuginnen hat sie am Dienstag vor den Abiturienten über das Thema „Die Nazis haben uns zu Juden gemacht“ gesprochen. Angesichts aufflammender gesellschaftlicher Tendenzen ungebrochen aktuell. Der Vortrag wird an diesem Tag gefilmt, nicht alle Schüler können in die Aula. Einige sitzen in einem anderen Raum, manche sind von zu Hause zugeschaltet. Wilke erreicht sie alle. Ihre Motivation: der Kampf gegen den Faschismus.

Dabei berichtet sie auch von ihrer Schulzeit – nur sah die in den 30er-Jahren ganz anders aus. Die Familie ihres Vaters war jüdisch, aber nicht religiös. Den Nazis ist das egal. Die Familie wird Opfer des unmenschlichen Antisemitismus. Auch Marianne, die 1929 auf die Welt kommt, noch unter ihrem Mädchennamen Lehmann. Die Nationalsozialisten bezeichnen sie als „Halbjüdin“. Mit dem Vormarsch der Ideologie beginnen schlaflose Nächte für das kleine Mädchen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, lauscht es den Gesprächen der Erwachsenen. „Es drehte sich immer um zwei Fragen“, erinnert sie sich: „Kann es noch schlimmer werden? Und müssen wir aus Deutschland weg?“

Ihr Onkel und ihre Tante können noch auswandern. „Aber dann überfiel Hitler am 1. September 1939 Polen. Der Zweite Weltkrieg begann, an Auswanderung war für uns nicht mehr zu denken.“ Familie Lehmann bleibt in der Wiesenstraße in Hamburg-Eimsbüttel zurück. Marianne geht ab 1936 in Hamburg zur Schule: „Es war, als stände zwischen mir und meinen Mitschülerinnen eine Glaswand.“ Sie erinnert sich an ein Gedicht aus dem Deutschunterricht: „Ich finde es in keinem Buch mehr. Aber ich habe es noch hier, in meinem Kopf.“ Dabei tippt sie sich an die Stirn und zitiert das Gedicht, das vor rechtsradikaler Gesinnung trieft, ohne einmal zu stottern.

„Die Ideologie zog sich durch alle Fächer. In Geografie unterteilten wir Länder in ,deutschfreundlich’ und ,deutschfeindlich’.“ Ihr Bruder übte in der Schule „Granatenweitwurf“. Das schlimmste Fach, so Wilke, war zu dieser Zeit aber Biologie. „Ihr lernt heute in Biologie verschiedene Blutgruppen. Wir lernten, dass es unterschiedliches Blut gäbe, das jüdische und das deutsche, und dass sich beide niemals mischen dürften.“ Zum ersten Mal rutscht Wilkes Stimme nach oben, als sie ruft: „Da wurde mir klar: Das betrifft ja meine Eltern!“

Immer wieder standen Beamte in der Wohnung der Familie und schrien ihre Mutter an, sie solle sich scheiden lassen. „Gott sei Dank hat sie das nie gemacht. Mein Vater wäre sonst nicht am Leben geblieben.“ Schatten wie diese ziehen sich durch ihre Kindheit.

„Ab 1936 wurde es immer schlimmer. Uns war alles verboten. Wir durften nicht in Parks, nicht ins Kino und nicht auf Konzerte.“ Wilke bringt nicht nur eindrückliche Geschichten mit, sondern zeigt auch Lebensmittelmarken und einen Judenstern. „Stellt euch vor, ihr müsst damit immer herumlaufen. Nur damit alle wissen: Da kommt ein Jude.“ Auch die Lebensmittelkarten ihrer Großeltern seien mit einem großen „J“ markiert gewesen. Manchmal sollte sie für ihre Großmutter einkaufen. „Es war schrecklich. Wenn die Verkäufer in der NSDAP waren, schrien sie mich an: ,Raus! An Juden verkaufe ich nicht!’ Das war sehr demütigend. Ich habe es gehasst. Zum Glück sagte ich das nie meiner Großmutter.“

Kein Wunder, dass die Halstenbeker Schüler Fragen haben. Obwohl sie durch den Saal bis vorn zu Bühne gehen müssen, um in ein Mikro zu sprechen, bildet sich schnell eine Schlange: Wie verhielten sich ihre Lehrer? Wie viel Selbstbewusstsein blieb angesichts der Demütigungen? Gab es denn keinen Widerstand? Die Wedelerin Wilke antwortet ausführlich. Der Frageblock soll schon vorbei sein, als vor dem Mikrofon immer noch wissbegierige Schüler stehen. Alle kommen dran. Und Wilke spricht nicht nur von der Vergangenheit, auch für die Zukunft hat sie Ratschläge. Mittlerweile ist es 11.10 Uhr, die Pausenglocke klingelt. Keiner regt sich, die Blicke bleiben auf die Bühne gerichtet. „Die wichtigste Lehre aus dieser Zeit steht im Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es gibt keine minderwertigen Menschen“ mahnt Wilke. An die Schüler gewandt sagt sie: „Seid niemals gleichgültig!“

Die Aufarbeitung der NS-Zeit war am Dienstag auch in Itzehoe Thema (siehe Text unten). Dort ging der „Stutthof-Prozess“ weiter. Die einstige KZ-Sekretärin Irmgard F. ist wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagt. Wilke nahm schon zum Prozessauftakt an einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude teil: „Niemand will sie hinter Gittern sehen, sie ist viel zu alt. Aber ein Wort der Reue, ein Anerkennen der Schuld, das erwarte ich. Man muss doch aus dieser Zeit lernen.“

Wilke hat viele Schlüsse aus der Vergangenheit gezogen. Einen weiteren verrät sie den Schülern zum Abschluss – mit einem Zitat von der Punkband „Die Ärzte“: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt“, sagt sie lächelnd. Aus dem Publikum heißt es: „Wir hätten noch zwei weitere Stunden zuhören können.“