Kreis Pinneberg. Knapp vier Monate nach dem Fall Kabuls berichten Angehörige aus dem Kreis von der Situation vor Ort. Sie fürchten Vergeltung.
„Wie viel Angst muss man haben, um sich an ein startendes Flugzeug zu klammern?“ Diese Frage stellt sich Adil Sayyid. Er denkt dabei zurück an die Bilder vom Flughafen Kabul, wo sich verzweifelte Menschen an das Fahrwerk einer US-Maschine krallten, um den Taliban zu entkommen. Sayyid denkt aber auch an seine eigenen Verwandten in Afghanistan – auch sie müssen um ihr Leben fürchten unter dem Regime der Islamisten.
Afghanistan: Angst nach Machtübernahme der Taliban
Es ist ruhig geworden in den Medien um den Fall Kabuls. Die Betroffenen leben aber weiterhin in ständiger Angst. Adil Sayyid ist einer von vielen Afghanen in Deutschland, deren Angehörige noch immer versuchen aus Afghanistan zu entkommen. Auch Basir Hazrat gehört dazu. Wir haben beide Männer im Kreis Pinneberg getroffen, sie leben hier. Ihre richtigen Namen wollen sie nicht öffentlich nennen – der kleineste Rückschluss auf ihre Identität könnte die Verwandten in zusätzliche Gefahr bringen.
Es sind ihre Brüder und Schwestern, ihre Onkel und Tanten, die in Afghanistan festsitzen. Sie alle haben in den letzten Jahren im Dienst internationaler Institutionen und Armeen gestanden. Als sich die aus Afghanistan zurückzogen und die Taliban im August die Herrschaft über das Land übernahmen, mussten die ehemaligen Ortskräfte untertauchen. Sie fürchten nun die Vergeltung der Taliban.
Afghanistan: Gefangen im Kreislauf der Rache
Sayyid kann die Taliban nicht verstehen. Aber er versteht den Kreislauf der Rache, in dem seine frühere Heimat gefangen ist. Damals, nach der Invasion der US-Amerikaner, seien in vielen Nachbarschaften die Talibankämpfer denunziert worden. Er denkt: Jetzt, wo die Islamisten zurück an der Macht sind, würden sie es den Denunzianten von damals heimzahlen wollen.
Seine Angehörigen vor Ort seien deshalb extrem eingeschüchtert. Auch sie sind längst untergetaucht. Ihre alten Jobs existieren nicht mehr, seit der Machtübernahme der Taliban fallen die meisten Gehälter aus. Wer im Verborgenen lebt, muss von vertrauenswürdigen Verwandten mitversorgt werden. Und die wirtschaftliche Lage in Afghanistan wird immer prekärer.
Afghanistan: Angehörige fürchten um ihre Familien
Für die Angehörigen in Deutschland bedeutet das, zum Zusehen verdammt zu sein. Er könne seiner Familie kein Geld schicken, sagt Sayyid, denn die Banken im Land hätten alle geschlossen. „Man kommt nicht raus aus Afghanistan, aber man kommt auch nicht rein“, sagt auch Hazrat. Das Land sei abgeriegelt. Die einzige Verbindung zu den Angehörigen ist das Telefon. Jeden Tag spreche er mit der Familie, es ist eine Verbindung zu einem Leben in Angst.
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Denn sobald die Untergetauchten ihr Versteck verlassen, müssen sie damit rechnen, von den Taliban aufgegriffen zu werden. „Die Menschen werden vor ihrer Wohnungstür erschossen“, sagt Sayyid. Von den Taliban würden dann Diebe für diese Morde verantwortlich machen. Deshalb harren seine Verwandten weiter in ihrem Unterschlupf aus und hoffen auf einen Flug nach Deutschland.
Afghanistan: Status als ehemalige Ortskraft nachweisen
Für einen verlässlichen Platz im Flieger würden sie das Risiko auf sich nehmen und den Weg zum Flughafen antreten – auch auf die Gefahr hin, dabei entdeckt zu werden. Nur gab es nach der Evakuierungsmission der Bundeswehr wochenlang keinen Flugverkehr nach Deutschland. Selbst die Verbindung nach Pakistan, die eine Zeit lang wenigstens sporadisch möglich war, wurde wegen Sicherheitsbedenken und auf Druck der Taliban eingestellt.
Keine Flüge zurzeit, das ist auch die Antwort, die Sayyid und Hazrat immer wieder hörten, wenn sie mit den Behörden vor Ort oder dem deutschen Außenministerium in Kontakt traten. Bis zum 10. November dauerte es, bis erstmals wieder eine Chartermaschine nach Deutschland fliegen und dabei 329 Ortskräfte in Sicherheit bringen konnte. Vielleicht ein Lichtblick.
Afghanistan: Flucht über Landweg viel zu riskant
Fieberhaft haben sie Dokumente und Bescheinigungen von ihren Angehörigen gesammelt. Papiere, die deren Einsatz für die internationalen Kräfte bestätigen sollen. Sayyid zeigt entsprechende E-Mails von den früheren Arbeitgebern seiner Verwandten. Die Hoffnung: Wenn der Status als Ortskraft bestätigt wurde und eine Aufnahmezusage der Bundesregierung vorliegt, könnte die Ausreise endlich starten.
Doch die reine Zusage hilft bislang wenig. Denn solange kein Flugzeug abhebt, führt auch kein Weg raus aus Afghanistan. Eine Flucht über Land, etwa nach Pakistan, komme für seine Verwandten noch nicht in Frage, meint Sayyid – viel zu riskant.
Afghanistan: Viele Botschaften in Kabul geschlossen
An eine deutsche Vertretung in Afghanistan können sich die Angehörigen aktuell nicht wenden. Die ist, wie die meisten Botschaften in Kabul, geschlossen. Denn die Regierung der Taliban wird von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt. Währenddessen kann die Tarnung der Betroffenen jederzeit auffliegen, und es kommt regelmäßig zu bedrohlichen Szenen.
Hazrat erzählt, wie er einen Anruf zu Hause abbrechen musste: Keine Telefonate jetzt, heißt es am anderen Ende der Leitung, die Taliban durchsuchen das Haus. Sie fragen nach den untergetauchten Verwandten und bedrohen die Familie. Für Hazrat vergehen ruhelose Tage, in denen er sich fragen muss, was aus ihnen geworden ist.
Afghanistan: Gewalt ist Teil des Alltags geworden
Am Ende ziehen die Islamisten unverrichteter Dinge wieder ab. Aber wie oft solche Kontrollen noch glimpflich ausgehen werden, ist unklar. „Ich weiß nicht, wie lange meine Brüder noch am Leben sind“, sagt Hazrat. Bevor sie das Haus seiner Familie verließen, drohten die Taliban bereits: „Wir kommen bald wieder.“
Schon seit 41 Jahren herrscht Krieg in Afghanistan, die Gewalt ist ein Teil des Alltags geworden. Sayyid gibt ein Beispiel: Wenn die Leute auf dem Basar seien und es 200 Meter entfernt eine Explosion gebe, dann stöberten die meisten einfach weiter in der Gemüseauslage. „Der Mensch gewöhnt sich an alles.“
Sayyid war selbst in der Armee, auch er hatte sich an dieses Leben gewöhnt. Aber heute sieht er die Konflikte mit anderen Augen. „Als mein Bruder erschossen wurde, habe ich den Krieg realisiert.“ Jede Familie habe mittlerweile Verwandte verloren und Sayyid fragt sich, wofür das alles gut gewesen sein soll. Auch für ihn war die Lage irgendwann zu bedrohlich – er floh vor vielen Jahren aus Afghanistan. Fast alle seine Brüder hat er seitdem verloren, im Umkreis der Familie sind es an die hundert Toten aus vier gewalttätigen Jahrzehnten.