Kreis Pinneberg. Serie: Diesmal geht es um 1994, als die Rinderseuche den Kreis erreichte und zotige Sprüche verboten wurden.
Die Hamburgischen Electricitätswerke (HEW) haben in den vergangenen Jahren 400 Millionen D-Mark in die Modernisierung des mit Steinkohle betriebenen Heizkraftwerks in Wedel investiert. „Mit dieser zukunftsorientierten Investition ist das Kraftwerk für die nächsten 25 bis 30 Jahre gerüstet“, sagt HEW-Vorstand Manfred Timm im Januar.
Turbulente Gerichtsverhandlung in Pinneberg
Für emotionale Verwüstung sorgt ein Prozess in Pinneberg: Sechs türkische Jugendliche sollen im Dezember 1992 in Halstenbek Skinheads verprügelt haben. Im Sitzungssaal prügeln sich Polizisten und Sympathisanten der Angeklagten, auf dem Vorplatz gibt es eine Demonstration mit 60 Personen. Mehr als 90 Beamte sind im Einsatz. Aus dem Saal werden Knallkörper auf die Straße geworfen. Der Verteidiger der Opfer ist in der rechten Szene bekannt und wird mit Farbbeuteln beworfen, die allerdings nur die Polizisten treffen.
Der SPD-Landtagsabgeordnete Jens Vollert setzt sich dafür ein, der Elbe einen Großteil ihres natürlichen Verlaufes zurückzugeben. Der Mensch trage einen „Großteil der Verantwortung aufgrund gravierender Einschnitte in die Natur“, so der Politiker im Abendblatt. Er spricht von „Russisch Roulette“. Überflutungsflächen sollten zurückgewonnen werden. Ende Januar steigt der Pegel der Elbe auf 5,80 Metern über Normalnull – zum Ärgernis der Feuerwehr werden deren Arbeiten durch Katastrophentouristen und Schaulustige behindert.
10.000 Arbeitslose im Kreis Pinneberg
Ein Doppelmörder aus dem Kreis Pinneberg wird in Berlin gefasst. Und das fünf Jahre nach der Tat. Ein arbeitsloser Schlachter soll in einem Tabakladen in Pinneberg das Betreiberpaar erstochen haben. Er bestreitet die Tat, aber die Fingerabdrücke sind am Griff des Messers. Jene waren zuvor auch in Berlin bei einem Wohnungseinbruch festgestellt worden.
Die Konjunktur schwächelt: Im Kreis sind 10.000 Menschen arbeitslos, das ist eine Steigerung von 16 Prozent im Vergleich zum Januar 1993.
Der Streit um den Müll spitzt sich im Februar weiter zu: Verschiedene Arbeitsgruppen kommen zu unterschiedlichen Prognosen des Müllaufkommens im Jahr 2006. Die Mitarbeiter des Abfallamtes kalkulieren mit einem Anstieg des Müllberges auf 47.600 Tonnen. Die Kritik: Es wird absichtlich mit hohen Zahlen jongliert, um an Deponieplänen an neuen Standorten festhalten zu können.
Skinheads stürmen Asylbewerberunterkunft
Eine Quickbornerin ist bestens ausgerüstet: Wenn der Strom ausfallen sollte, käme sie niemals in die Verlegenheit, „mit einer ungebügelten Bluse aus dem Haus gehen zu müssen“. Lilly Brinkers sammelt Bügeleisen und hat 150 im Repertoire, die mit Gas, Kohle oder Spiritussteinen betrieben werden. Genug Energie haben auch die Basketballer des SC Rist Wedel, die drei Spieltage vor Schluss den Wiederaufstieg in die 2. Bundesliga perfekt machen. Am Ende bleibt es eine niederlagenlose Saison.
Ausländerhass kommt in Pinneberg im März auf: Mit Holzkeulen und einer Gaspistole bewaffnet stürmen drei Skinheads an der Elmshorner Straße eine Asylunterkunft. Die 20 Bewohner werden aufgefordert, Deutschland zu verlassen, sonst „würde etwas passieren“. Eine Fensterscheibe geht zu Bruch. Gegenüber der Polizei sagen die Angreifer, sie wollten sich nur informieren, warum jene nach Deutschland gekommen seien. Wegen mangelhafter Englisch-Kenntnisse habe das aber nicht geklappt.
Erster BSE-Fall in Schleswig-Holstein
In Westerhorn gibt es den landesweit ersten BSE-Fall. Das Abendblatt rät generell dazu, sich „vor dem Steak-Genuß genau zu informieren“. Das Rindfleisch solle möglichst direkt vor Ort gekauft werden. Theoretisch sollen im Kreis Pinneberg kein aus Großbritannien stammendes Rind oder verdächtige Futtermittel im Umlauf sein. Der Trend, auf dem Bauernhof direkt vor Ort einzukaufen, wird immer größer. Die Kunden möchten wissen, woher die Waren kommen.
In Schleswig-Holstein gibt es etwa 1000 Direktvermarkter. Die einen sprechen von einer „Renaissance der Landwirtschaft“, andere vermuten „die letzten Zuckungen eines aussterbenden Berufsstandes“. Die Lebensmittelskandale haben die Leute vorsichtiger werden lassen, „außerdem schmeckt es ihnen besser“, sagt Landwirtin Kerstin Meyer aus Tornesch. Der „Pionier“ Wilfried Schümann aus Brande-Hörnerkirchen setzt bereits seit 1980 auf ökologische Landwirtschaft.
Mitte April berichtet das Abendblatt, dass jeder dritte Arbeitsunfall im Kreis unter Alkoholeinfluss geschieht. Offizielle Untersuchungen ergeben, dass elf Prozent aller Berufstätigen täglich am Arbeitsplatz trinken.
Pinneberg ist bei Hamburger Skatern beliebt
Ein Großfeuer sorgt neben der Vernichtung von mehreren Tonnen Fleisch auch für einen Schaden in Millionenhöhe. Gleich mehrere Brandsätze beim Großhandel Brandt in Quickborn werden gelegt. In Prisdorf wird eine Umweltkatastrophe verhindert, weil es gelingt, dass ein Feuer in einer Prisdorfer Lagerhalle nicht auf andere Hallen mit eingelagerten Kunststoffen übergreift. In Bokel treffen sich 50 Oldtimer-Freunde zu einer Tour bis Friedrichskoog. Das wertvollste Auto ist ein Mercedes 500 K, Baujahr 1940, dessen Preis bei etwa zwei Millionen Mark liegt.
Im Mai hat die Hip-Hop-Gruppe Fettes Brot einen ersten größeren TV-Auftritt beim Musiksender Viva. „Mitschnacker“ heißt die erste EP der später bundesweit bekannten Rapper aus Halstenbek, Schenefeld und Pinneberg.
„In ganz Hamburg kann man nirgends so gut Skateboard fahren wie in Pinneberg. Der Bodenbelag ist gut, und die Quader auf dem Platz sind einfach ideal, um Tricks einzuüben“, sagt der 15 Jahre alte Chris, der aus Steilshoop mit der Bahn anreist. Doch bald soll Schluss sein damit auf dem Drosteivorplatz, die „Vertreibung aus dem Paradies droht“, titelt das Abendblatt. Verbotsschilder sind bestellt. Vor allem der Lärm, aber auch Beschädigungen durch Sprünge und dergleichen sind die Gründe. Bürgermeister Jan Nevermann: „Wenn ich in den Abendstunden im Rathaus arbeite, hat mich der Krach schon oft zusammenzucken lassen.“ Die Skatebahn unter der Hochbrücke ist oft verdreckt, dafür machen die Skater andere trinkfreudige Jugendliche verantwortlich.
Polizei ist Kriminellen technisch unterlegen
Im Juni kündigt der Kreistag an, einen harten Sparkurs fahren zu wollen. Zwischen 1995 und 1997 sollen zwölf Millionen Mark eingespart werden, der gesamte Straßenbau soll kein Geld abbekommen. Die beruflichen Schulen erhalten erstmals ein festes Budget. Zudem ist der Plan, 25 Millionen Mark weniger an Krediten aufzunehmen.
Die Polizei fühlt sich in ihrer technischer Ausstattung den Kriminellen unterlegen. Das Abendblatt spricht von „Ganoven in schnellen Wagen, die sich mit Handys verständigen“ und „Beamten in auffällig unauffälligen Fahrzeugen mit Funkgeräten im Format einer Zigarettenstange“. Bei einer Fahndung nach einem Exhibitionisten im Wald funktionierte der Funk nicht einmal auf einer Entfernung von einem Kilometer. Polizeifunk lasse sich mit einfachen Scannern für 800 Mark abhören. „Darum fangen wir meistens nur die Doofen“, sagt ein Kripo-Beamter.
Das verschärfte Asylgesetz aus dem Vorjahr hat weniger Geflüchtete in den Kreis Pinneberg kommen lassen: 2276 suchten Zuflucht 1993, 1363 sind es bislang bis zum Juli in diesem Jahr. Ein Rückgang um 40 Prozent. Trotzdem bleibt die Raumnot für die Unterbringung groß, weil der Zustrom aus den ehemaligen Ostblockstaaten anhält. Aussiedler bleiben deutlich länger in den ihnen zugewiesenen Wohnmöglichkeiten.
Hitzerekord auf Helgoland, Arbeitslosigkeit steigt
Bereits elf Tage des Julis liegen in ihrer Temperatur jenseits der 30-Grad-Marke. Im „Supersommer von 1992“ war es einer. Garten-Pavillons und Tischventilatoren sind der Renner in Baumärkten. Und natürlich alle Grillutensilien. Auch die „Erfrischungsbranche“ um Wasser, Getränke und Eis boomt. Der Hitze-Rekord auf Helgoland aus dem Jahr 1941 wird um 0,7 Grad überschritten und liegt nun bei 28,7 Grad.
Auch die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt: Um 50 Prozent binnen zehn Jahren auf 11.500 Personen kreisweit. Auch für Arbeitstätige wird es aufgrund steigender Lebenshaltungskosten und Mieten schwieriger. Fachleute sprechen von „neuer Armut“ und warnen davor, „die Schere zwischen Armen und Reichen immer weiter auseinanderklaffen zu lassen“.
Die Verschuldung im Kreis steigt: Der Schuldenberg beläuft sich auf 121 Millionen Mark, täglich zahlt der Kreis 41.900 Mark an Zins- und Tilgungsabträgen. Nach den Kreisen Steinburg und Schleswig-Flensburg ist das Platz drei. Das Abendblatt titelt: „Der tiefe Sturz in die roten Zahlen“.
Zotige Bemerkungen werden verboten
August: Isabelle und Vanessa – sieben und vier Jahre alt – werden den ganzen Tag über fieberhaft in ganz Appen gesucht. Nach sechs Stunden werden sie wohlbehalten im Nachbarhaus beim Spielen entdeckt. Das französische Au-pair-Mädchen hatte die Rundfunkdurchsagen nicht verstanden und auch das Klingeln an der Haustür überhört.
Anfang September tritt ein Bundesgesetz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Kraft: Bei „zotigen Bemerkungen, dem Betatschen von Hinterteilen oder sonstigen empfindlichen Körperzonen“ ist von einer Abmahnung bis zur Kündigung alles möglich. Auch „Nacktfotos an Aktenschränken, Spinden und Türen können unter den Bann der Vorschrift fallen.“
50 Gaffer schauen zu, nur einer hilft: Im Tornescher Regenrückhaltebecken droht ein acht Jahre alter Junge zu ertrinken. Ergün Helvacioglu (17) springt mutig ins Wasser und rettet das Kind.
Erster verkaufsoffener Sonntag in Pinneberg
40.000 bis 50.000 Menschen sind beim ersten verkaufsoffenen Sonntag in der Pinneberger City dabei. Andere Kommunen wollen nachziehen, Kirche und Gewerkschaften sind allerdings dagegen. Explosiv geht es im Oktober vor einer Schenefelder Spielhalle zu: Ein Unbekannter stellt eine Plastiktüte mit einer Tellermine ab. Die hält man zunächst für einen Schirmständer. Der Munitionsräumdienst rückt an und entschärft den Fund.
Anfang November wird darauf aufmerksam gemacht, dass allen Vereinen und Hilfsorganisationen im Kreis zunehmend ehrenamtliche Helfer fehlen. „Immer weniger Menschen möchten Aufgaben übernehmen, für die nichts bezahlt wird.“
Die weltweit populäre Soulband „Kool & The Gang“ startet die Deutschland-Tour in der Wedeler Disco „M“. Weniger schwungvoll: Die B 431 in Elmshorn ist in weiten Teilen unterspült, für die Sanierung der Kanalisation muss die Strecke für mindestens ein Jahr gesperrt werden. Ein Bilsener Sonderpostenhändler muss wegen gewerbsmäßiger Hehlerei, Betrugs und Anstiftung dazu zu fünf Jahren Haft und einer Strafe von 1,8 Millionen Mark verurteilt.
Ärzte wollen kaum Aids-Kranke behandeln
Anfang Dezember zeigt eine Umfrage von Aids-Beratern unter den 487 Ärzten im Kreis Pinneberg und Steinburg, dass nur wenige bereit sind, Infizierte oder Erkrankte zu behandeln oder zu beraten. Immerhin gibt es in jeder größeren Stadt eine Praxis als Anlaufstelle. 80 Prozent der Mediziner beantworteten die Fragen, 40 Prozent davon zogen es allerdings vor, anonym zu bleiben. Nur 16 Prozent derer, die noch keinen HIV-Patienten hatten, können sich eine Behandlung vorstellen. Zu Hausbesuchen wäre jeder Dritte bereit. „Ein sehr trauriges Ergebnis“, sagt Dr. Jörn Wolters von der Aids-Hilfe Elmshorn.
Den hiesigen Wäldern geht es nicht gut. „Deutliche Immissionsschäden sind in allen Teilen des Landes zu verzeichnen“, heißt es im Landesforstbericht. Als „ausgesprochen beunruhigend“ bezeichnet Hans-Albrecht Hewicker, Direktor des Forstamtes Rantzau, den Zustand des Waldes vor Ort. Die Tendenz ist negativ, die Böden sind zu sauer, die Eichen sterben. Das habe es früher nicht gegeben. Ohnehin zählt der Kreis Pinneberg zu den waldärmsten Gebieten Deutschlands. 3915 Hektar beträgt die Fläche, etwa sechs Prozent des Kreisgebiets. Und auch vielen Unternehmen im Kreis ist die Luft ausgegangen: Zwischen Oktober 1993 und September 1994 wurden 93 Konkurs-Verfahren eröffnet. So viele wie nie zuvor.