Pinneberg. Seit zehn Jahren gibt es den ADFC in Pinneberg. Das könnte ein Grund zum Jubeln sein – ist es aber nicht.
Fünf Millionen Fahrräder wurden im vergangenen Jahr in Deutschland verkauft, zudem zwei Millionen E-Bikes. Unstrittig wird spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie mehr Fahrrad gefahren. Eine große Chance also, dem Ziel der Bundesregierung näher zu kommen, den Fahrradverkehr bis 2030 zu verdoppeln. „Das kriegen wir mit der Struktur hier aber nicht hin“, sagt Ulf Brüggmann, Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs (ADFC) in Pinneberg, nüchtern. Seine Bilanz anlässlich der nun zehn Jahre bestehenden Ortsgruppe: vernichtend.
Radwege zu schmal, Vorhaben werden nicht umgesetzt
„Fast alle Radwege im Kreis sind gesetzeswidrig“, sagt Brüggmann. „Sie entsprechen nicht den Mindestanforderungen und sind zu schmal.“ In Pinneberg dümpeln die Pläne, die Infrastruktur für Radfahrer zu verbessern, seit Jahren vor sich hin. Nicht mal die Vorhaben, die Ausschuss und Ratsversammlung passiert haben, werden alle umgesetzt, so Brüggmann.
Beispiel: Osterholder Allee. Die Straße und deren Fortsetzung Manfred-von-Richthofen-Straße soll in diesem Jahr zur Fahrradstraße umgewidmet werden. Dafür wurde Geld in den Haushalt gestellt. Passiert sei: nichts. Dabei führt gerade dieser Weg zu zwei Schulen im Quellental, der Grund- und Gemeinschaftsschule (GuGS) und zum Theodor-Heuss-Gymnasium. Eine Fahrradstraße würde mehr Sicherheit für viele Kinder bedeuten.
„Verbesserungen für Radfahrende mit der Lupe suchen“
Ebenso stagnieren die Fortschritte am Fahltskamp, dessen fahrradfreundliche Umgestaltung beschlossene Sache war, bis sie von der Politik zurückgepfiffen wurde. „Dadurch wurden die Fördermittel des Kreises, die wir bekommen hätten, gestrichen“, sagt Bürgermeisterin Urte Steinberg. Um die Umgestaltung erneut anzupacken, müsse wieder ein neues Konzept her. Der Fahltskamp führt zur Johannes-Brahms-Schule, wird von vielen Kindern genutzt, außerdem von den Sportlern des VfL und von allen, die nach Rellingen radeln.
Die Stadt versucht in einer Mitteilung, ein positives Gefühl im Hinblick auf den Fahrradverkehr zu erzeugen: „Pinneberg hat sich zum Ziel gesetzt, den Fahrradverkehr in der Stadt kontinuierlich zu fördern, zu verbessern und sicherer zu machen.“
Brüggmann sagt dazu: „Insgesamt geht es mit den Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs zu langsam voran. Die Ausweisung der Fahrradstraßen rund um die Schulen und entlang der 2013 beschlossenen Velorouten stagniert. Das Fahrradparkhaus am Bahnhof existiert nur auf dem Papier. Verbesserungen für Radfahrende muss man in Pinneberg mit der Lupe suchen.“
Landesrechnungshof rügt die Radpolitik in der Region
Fakt ist, dass über Jahre nicht die 200.000 Euro ausgegeben wurden, die im Haushalt für den Fahrradverkehr bereit standen. Im Juni hat der Stadtentwicklungsausschuss wenigstens die Umsetzung der Velorouten-Beschilderung beschlossen. Diese führen nach Prisdorf, Thesdorf, Waldenau, Appen und Kummerfeld.
Lediglich die Pinneberger Goethestraße wurde als Einbahnstraße mit Freigabe für den Radverkehr in die Gegenrichtung beschildert, der Gehweg auf nur eine Seite verlegt. Ulf Brüggmann begrüßt das: „Für die GuGS-Schüler ist damit eine wirklich gute Alternative zum völlig unbrauchbaren Thesdorfer Weg entstanden.“ Manfred Stache (Grüne/Unabhängige) kritisiert: „Der Fahrradstreifen gegen die Einbahnstraße ist schmal, der Autostreifen breit. Dort kann man jetzt wieder schneller fahren. Die Schüler können nicht nebeneinander fahren. Wenn das Standard werden soll, sind wir 2090 noch nicht fertig. Das Geld kann man sich sparen.“
Radverkehr in Pinneberg hat es laut ADFC schwer
An der Osterholder Allee geht es laut Stache deshalb nicht weiter, weil ein offizielles Abstimmungsgespräch mit Feuerwehr und Polizei nicht stattfindet, „das ist notwendig, wenn eine Fahrradstraße eingerichtet werden soll“. Auch die Bismarckstraße, wo ein Radfahrer bereits zu Tode kam, wartet auf ihre Umgestaltung zur Fahrradstraße – neben zwölf weiteren, die die Verwaltung vorgeschlagen hat. Dagegen wurde am Hunnenbarg tatsächlich eine Fahrradstraße eingerichtet, gegen die derzeit aber ein Landwirt klagt. Stache: „Alle anderen Fahrradstraßen wurden deshalb auf Eis gelegt.“
Insgesamt habe es der Fahrradverkehr schwer. Die ökologisch und gesundheitlich positiven Effekte, die aus einem Umstieg aufs Rad resultieren, würden von vielen nicht ernst genommen. Es dominiere weiter der Autoverkehr. Die wegen überlasteter Straßen, teurer Asphaltreparaturen, zunehmender Versiegelung und Zersiedelung angestrebte Verkehrswende wird vielerorts verschoben und zerredet, der öffentliche Personennahverkehr gerade auf der Schiene im Kreis kaum ausgebaut und die Radwege nur saniert, wenn auch die Landstraße daneben dran ist.
Mehr Aufwand für Sanierung der Radwege
Laut Harald Haase, Sprecher im Kieler Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus, sind dort genau zwei Kräfte für den Radverkehr zuständig, „je nach Bedarf auch bis zu sechs“. Diese zwei haben aber auch noch andere Aufgaben. Zum Vergleich: Gut 40 Menschen beschäftigen sich dort insgesamt mit dem Verkehr. Nicht grundlos spart auch der diesjährige Bericht des Landesrechnungshofes (LRH) nicht mit Kritik: Weder gebe es einen Zustandsbericht über die Radwege, noch würde die Beseitigung der Schäden vereinheitlicht, verzeichnet und überprüft.
Da an vielen Radwegen Bäume stehen, ist es laut Landesrechnungshof notwendig, mehr Aufwand bei der Sanierung der Radwege zu betreiben und Qualitätsstandards festzusetzen. Es „sind oftmals bereits nach kürzester Zeit nach Abschluss der Instandsetzungsarbeiten die alten Schäden wieder vorhanden. (...), die aufgewendeten Haushaltsmittel sind in diesen Fällen sinnlos ausgegeben worden“, so der LRH-Bericht.
Straßenkontrolleur soll Zustand der Straßen überwachen
„Ein flächendeckendes Zustandskataster der Radwege an Landesstraßen liegt bisher nicht vor“, so der LRH. Die Bilanz: „Die Erhaltungsmaßnahmen an Radwegen waren häufig unzureichend und hielten nur wenige Jahre. (...) Der Zustand der Radwege muss systematisch und kontinuierlich verbessert werden.“
In Pinneberg wurde die Stelle eines Straßenkontrolleurs geschaffen, dessen Aufgabe es ist, die Straßen täglich abzufahren und ihren Zustand zu protokollieren: „Die Unfallkommission der Stadt sitzt regelmäßig zusammen und überprüft anhand von Unfallstatistiken und Unfallschwerpunkten besonders kritische Stellen“, so Stadtsprecher Marco Bröcker.
Was Pinneberg von anderen Städten lernen kann
Ulf Brüggmann sagt, dass der Fahrradverkehr europaweit immer dann sprunghaft zunimmt, wenn die entsprechende Infrastruktur ausgebaut wird. Beispiel: Die polnische Stadt Danzig. Im Jahr 2009 machte der Fahrradverkehr läppische zwei Prozent aus. Dann fiel der Entschluss, Danzig zur Fahrradstadt zu machen. Heute fahren dort 17 Prozent der Bevölkerung mit dem Fahrrad, 600 Kilometer Fahrradwege wurden in der Stadt gebaut – „aus unserer Sicht ein Traum“, sagt Ulf Brüggmann. In Kopenhagen liegt der Anteil des Fahrradverkehrs bei rund 32 Prozent, in Amsterdam besitzen 75 Prozent der über Zwölfjährigen ein Rad, etwa die Hälfte von ihnen benutzt es täglich.
Zahlen hat Brüggmann ohnehin ad hoc parat: 60 bis 65 Prozent der Bevölkerung in Deutschland habe Lust aufs Fahrradfahren, 16 Prozent machen es auch tatsächlich. Die Diskrepanz ist groß. Dass viele Menschen doch lieber ins Auto steigen, habe primär mit einem mangelnden Gefühl von Sicherheit beim Fahrradfahren zu tun.
So lautet das Fazit des Landesrechnungshofes aus dem Februarbericht: „Für die Entwicklung einer nachhaltigen Mobilität und die Bereitschaft zum Umstieg auf das klima- und umweltfreundliche Verkehrsmittel Fahrrad einerseits und zur Sicherung des Tourismusstandorts Schleswig-Holstein ist die zielgerichtete Erhaltung der Radwege von größter Bedeutung.“