Hetlingen. Schüler müssen wegen Personalmangel andernorts beschult werden. Eltern und Gemeinde fürchten um Zukunft der Schule.

Noch bevor am 31. Juli die Sommerferien enden, sorgen sich Eltern und Gemeinde um den Fortbestand der Hetlinger Dorfschule. Der Grund ist Lehrermangel. Zehn Viertklässler der Grundschule müssen deshalb woanders beschult werden.

Zehn Grundschüler sollen in Haseldorf zur Schule gehen

Voraussichtlich per Schulbus oder Eltern-Taxi müssen sie vier Kilometer weiter an die Grundschule im benachbarten Haseldorf wechseln. In der ohnehin aufwühlenden Corona-Zeit. Und in einem Alter, das mitentscheidend ist für den weiteren persönlichen Weg inklusive einer „Schul-Karriere“ an weiterführenden Schulen.

Die zehn Hetlinger Schüler werden nach Ansicht der Eltern aus ihrem gewohnten Schulalltag herausgerissen und in bestehende Klassen umverteilt. Dies sei keine optimale Lösung – aber zumindest im Schuljahr 2021/22 nicht mehr zu ändern. An der Außenstelle in Hetlingen – angeschlossen an die Grundschule Haseldorfer Marsch – werden dann nur noch 46 Schüler unterrichtet. Für einige in der Gemeinde könnte das der Anfang vom Ende der Schule sein.

Hintergrund der Umverteilung und der drohenden Bedeutungslosigkeit: Nachdem eine von drei Lehrerinnen schwanger geworden ist, werden dringend Lehrkräfte gesucht, um den Lehrbetrieb im Dorf aufrecht zu erhalten. Kein Einzelfall: In einigen Regionen Schleswig-Holsteins bleiben bis zu 20 Prozent der Lehrerstellen laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unbesetzt. Vor allem in Randlagen ist die Lage problematisch. Im Vorjahr blieben landesweit mehr als 200 Lehrerstellen offen. Etwa 8000 Lehrer sind in der gleichen Zeit in Rente gegangen. Die Quote von Quereinsteigern unter den Lehrkräften lag bei 16 Prozent.

Hetlinger Schüler werden jahrgangsübergreifen unterrichtet

Die zwei verbliebenen engagierten Lehrerinnen in Hetlingen sind schon seit Jahren mit dem Konzept vertraut, das einen genormten Weg der Bildung bisweilen verlässt. Denn seit knapp zehn Jahren wird in Hetlingen in Familienklassen unterrichtet. Der damalige Schulrat hatte das Konzept mit dem Kollegium entwickelt. Möglicherweise ist auch dieses Modell ein Grund dafür, dass sich neue Bewerber nicht so schnell finden lassen.

Denn in den Hetlinger Familienklassen gibt es jahrgangsübergreifenden Unterricht mit zwei gemischten Klassen der Stufen eins bis vier. Auf der pädagogischen Ideallinie lernt jeder Schüler in seinem eigenen Tempo, die Älteren unterstützen die Jüngeren, die Kinder sollen selbstständig und in Gruppen zu lernen. Die soziale Kompetenz steige parallel zur Wissensaufnahme. Der klassische Frontal-Unterricht hat dabei weitgehend ausgedient. In ähnlicher Form wird nach solch einem Konzept sonst eher nur an kostenintensiven Privatschulen (Montessori) gelehrt.

Zunächst herrschte am Deich Skepsis, doch das Modell funktioniert – auch wenn die Realität nicht immer zu 100 Prozent die theoretische Wunschvorstellung trifft. An einer größeren Schule in Horst gibt es Familienklassen für etwa 200 Schüler. Auch die Schülerzahlen in Hetlingen stiegen von 37 auf 40, 44, 50 und nun theoretisch 56. Das ging im Laufe der Jahre über die Belastungsgrenze für die drei beziehungsweise nur noch zwei Teilzeit-Lehrkräfte hinaus.

2022/23 sollen Schüler wieder in Hetlingen unterrichtet werden

In Folge eines ersten Aufrufs haben sich eine Lehrerin gemeldet sowie ein angehender Sozialpädagoge. Letzterer steht in Kontakt mit der Schulleiterin Milena Matthiesen, zuständig für beide Schulen, und soll nach den Ferien zunächst in Haseldorf arbeiten. Läuft alles nach Plan, ist der Übergang nach Hetlingen geplant.

Etwas mehr Resonanz – gerade von vollausgebildeten Lehrern – wäre jedoch wünschenswert, weil im besten Fall ein bis zwei Lehrer oder Lehrerinnen gefunden werden müssten. Zumindest eine Vollzeitstelle ist vom Land freigegeben, theoretisch müssten für die GS Haseldorfer Marsch/Hetlingen nach dem Verteilungsschlüssel zwei zusätzliche Vollzeitkräfte zur Verfügung stehen.

Das Ziel ist, 2022/23 wieder die Möglichkeit zu bieten, dass alle Kinder von der ersten bis zur vierten Schulklasse wieder im Dorf unterrichtet werden. Alle Hetlinger sollen auch in Hetlingen direkt zur Schule gehen. „Das ist aus meiner Sicht alternativlos. Wir bevorzugen das Motto ‚Kurze Beine, kurze Wege‘. Die Kinder sollen zu Fuß, dem Fahrrad oder mit dem Roller zur Schule kommen können und nicht von den Eltern zur Schule gefahren müssen, weil der Weg etwas weiter ist“, sagt die Hetlingerin Lisa Cassel. Ihre Tochter Charlotte geht nach den Ferien in die 3. Klasse. Eine weitere Tochter wird 2022 eingeschult.

Hetlinger Grundschule gibt es seit 250 Jahren

Sie und andere Eltern möchten verhindern, dass aus der Zwischen- eine Dauerlösung wird und die Dorfschule direkt am Deich perspektivisch vielleicht komplett der Vergangenheit angehört. Widerstandsfähig ist die kleine Gemeinde mit ihren knapp 1400 Einwohnern. Zuletzt bot sie ihrem Nachbarn Haseldorf in der Gemeindevertretung beim Plan, den Wunsch eines Neubaugebiets voranzutreiben, die Stirn.

Hetlingens Bürgermeister Michael Rahn.
Hetlingens Bürgermeister Michael Rahn. © Frederik Büll | Frederik Büll

„Vor zwölf Jahren musste sich unsere kleine Schule wegen der Mindestgrößenverordnung des Landes mit der benachbarten Grundschule in Haseldorf zusammenschließen“, sagt Bürgermeister Michael Rahn (61). Seitdem wird immer wieder mit unterschiedlichen Themen um die Existenz der Außenstelle in Hetlingen gekämpft. Die Grundschule gibt es seit mehr als 250 Jahren, die Räumlichkeiten sind 20 Jahre alt, lichtdurchflutet und mit Glasfaser-Internet-Anschluss sowie digitalen Tafeln ausgestattet.

„Eigentlich sind das ideale Voraussetzungen. Die heutige Lehrergeneration schätze ich so ein, dass sie ein Konzept weiterentwickeln und mitgestalten will. Und das ist hier in einem kleinen Team möglich“, sagt die 37 Jahre alte Cassel, die sich fast schon darüber wundert, dass es bisher kaum Interessenten für eine reizvolle Aufgabe in idyllischer Umgebung gibt. Möglicherweise könnte der Sprung in unbekannte pädagogische Gewässer hemmen.

Lehrerinnen arbeiten am Limit, es fehlen Lehrkräfte

„Dass nun das Konzept der Familienklassen in Hetlingen aufgebrochen wird, ist kein gutes Signal für die Eltern. Die Verlässlichkeit, dass die hier wohnenden Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse beschult werden, sinkt“, sagt der Bürgermeister von den Freien Wählern. In Schleswig-Holstein dürfen Grundschulklassen erst ab 36 Kindern getrennt werden. Bei bis zu 23 Kindern pro Familienklasse konnten die Lehrerinnen das System des Lernens in unterschiedlichen Lerngruppen noch beherrschen.

Mit 25, wie in diesem Schuljahr, kamen die Lehrerinnen an ihr Limit. 28 Schüler, die im Schuljahr 2021/22 kommen, sind für zwei Klassen personell, zumal nur noch zu zweit, nicht mehr zu verkraften. Schulbetreuer, Schulassistenz, Sekretärin und Bundesfreiwilligendienstler werden bereits von der Gemeinde mitfinanziert. Es fehlt an Lehrern. Und dass, obwohl das Land mit einem Regionalzuschlag in Höhe von 250 Euro monatlich Lehrer gewinnen will.

Wechsel an andere Schule verursacht Kosten für Gemeinde

Dass nun zehn Schüler ein Jahr vor dem Wechsel an weiterführende Schulen aus ihrem Umfeld genommen werden, sei traurig. „Nach einem schwierigen Jahr werden sie ein zweites Mal aus der Schulgemeinschaft gerissen, von ihren Freunden getrennt, und müssen sich in Haseldorf neu eingewöhnen“, sagt Mutter Nina Linke (42), deren Sohn Matti bald in die 3. Klasse geht.

Zudem kommen nun pro Kind 2.500 Euro Schulkostenbeiträge auf die Gemeinde Hetlingen zu – also insgesamt 25.000 Euro. Die Abgeordneten von CDU, Grünen und FDP in Kiel haben im Bildungsministerium schon nach Möglichkeiten gefragt, um das Hetlinger Familienklassenmodell zu unterstützen. Echte Abhilfe würden ab sofort aber wohl nur neue Lehrer schaffen.