Quickborn/Itzehoe. Amtsarzt weist auf die Herzkrankheit der 95-jährigen Irmgard F. aus Quickborn hin. Gericht hat Kardiologen mit weiterem Gutachten betraut.

Das Landgericht Itzehoe will in etwa zwei Monaten entscheiden, ob es zum Prozess gegen Irmgard F. (95) kommen wird. Die Quickbornerin war im Zweiten Weltkrieg als Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig tätig, laut Anklage soll sie das Morden im KZ unterstützt haben.

Die Staatsanwaltschaft Itzehoe hatte seit Sommer 2016 gegen die Seniorin ermittelt, Ende Januar dieses Jahres dann Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen erhoben. Seitdem prüft die Jugendkammer des Landgerichts, die aufgrund des Alters der Frau zur Tatzeit zuständig ist, ob sie diese Anklage zur Verhandlung zulässt. Dabei muss die Kammer die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise bewerten und zu dem Ergebnis kommen, dass ein hinreichender Tatverdacht gegen Irmgard F. vorliegt.

Eigentlich sollte die Entscheidung, ob es zu einem der letzten großen NS-Prozesse der Nachkriegszeit kommt, längst gefallen sein. Wie das Abendblatt aus eingeweihten Kreisen erfuhr, hängt derzeit alles an der Frage der Verhandlungsfähigkeit der Seniorin. So hat ein Gutachten des amtsärztlichen Dienst des Kreises auf die Herzkrankheit der 95-Jährigen hingewiesen und die Verhandlungsfähigkeit der Frau, die in einem Seniorenheim in Quickborn-Heide lebt, in Zweifel gezogen. Ein abschließendes Urteil dazu fehlt jedoch in der Stellungnahme des Amtsarztes.

Der Kammervorsitzende Dominik Groß hat nun einen auf Herzkrankheiten spezialisierten Kardiologen mit einer weitergehenden Untersuchung der Angeklagten beauftragt. Dieses Fachgutachten soll in etwa zwei Monaten vorliegen und Grundlage der gerichtlichen Entscheidung werden. Eingeweihte gehen davon aus, das Irmgard F. zumindest stundenweise verhandlungsfähig sein wird. Sollte dies der Fall sein, könnte das Mammutverfahren voraussichtlich im September oder Oktober starten.

Aktuell soll die Zahl der Nebenkläger, bei denen es sich um KZ-Überlebende oder deren Angehörige handelt, bei 13 liegen. Kürzlich soll einer der Nebenkläger verstorben sein. Weil alle im Verfahren anwaltlich vertreten sind, ist die Zahl der Prozessbeteiligten hoch und sprengt auch angesichts der Corona-Auflagen die Kapazität der im Landgericht Itzehoe vorhandenen Säle. Als Ausweichort mit ausreichend Platz soll die Aula der Elmshorner Nordakademie im Gespräch sein.

Dieser mit Kreide gezeichnete Plan des Konzentrationslagers Stutthof war 1955 im Gerichtssaal während des Prozesses gegen einen ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Lagerkommandanten des Konzentrationslagers zu sehen. Ob sich Irmgard F. aus Quickborn, die dem Kommandanten als Sekretärin diente, wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht verantworten muss, entscheidet sich voraussichtlich im Sommer.
Dieser mit Kreide gezeichnete Plan des Konzentrationslagers Stutthof war 1955 im Gerichtssaal während des Prozesses gegen einen ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Lagerkommandanten des Konzentrationslagers zu sehen. Ob sich Irmgard F. aus Quickborn, die dem Kommandanten als Sekretärin diente, wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht verantworten muss, entscheidet sich voraussichtlich im Sommer. © dpa | Bernhard Frye

Sollte es zum Prozess kommen, wird Wolf Molkentin dabei sein. Der Jurist aus der Kanzlei Gubitz und Partner mit Sitz in Kiel ist der Pflichtverteidiger der 95-Jährigen – und befürwortet die späte Auseinandersetzung der Justiz mit dem Fall. „Dass dieser Fall jetzt noch einmal aufgearbeitet wird, finde ich grundsätzlich sinnvoll. Jede Aufarbeitung der Strukturen und Taten in den Lagern stellt ein Stück Gerechtigkeit dar.“

Dass erst 71 Jahre nach Kriegsende 2016 die Ermittlungen gegen Irmgard F. begannen, ist einer geänderten Rechtsauffassung bei deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten geschuldet. Sie sind zu der Erkenntnis gekommen, dass unterstützende Tätigkeiten wie Wach- oder eben auch Schreibdienste im juristischen Sinn als Beihilfe zum Mord zu werten sind. Davor waren meist nur die Täter belangt worden, die hohe Positionen in den Konzentrationslagern innehatten oder sich direkt an Tötungen beteiligt hatten.

Das ist bei Irmgard F. nicht der Fall. In dem Verfahren geht es jetzt darum, ob die von ihrem 18. bis 20. Lebensjahr als Schreibkraft in dem KZ eingesetzte Frau Kenntnis von den Gräueltaten hatte und durch ihre Tätigkeit zum Funktionieren des Lagers beitrug. Was sich dort ereignet hat, will die 95-Jährige nicht in Abrede stellen. „Es besteht mit meiner Mandantin Einigkeit, dass die dort begangenen Haupttaten nicht angezweifelt werden“, sagt Anwalt Molkentin.

Er weist auf die Unschuldsvermutung hin, die natürlich auch für seine Mandantin gelte. „Sollte der Fall vor Gericht kommen, werden wir sehen, ob die Beweise ausreichend sind.“ Molkentin hat sich ausführlich befasst mit dem Gutachten eines Historikers, das Hauptbestandteil der Anklage ist. „In dem der Anklage beigefügten Historikergutachten findet sich wenig Konkretes zur persönlichen Verantwortung meiner Mandantin“, so der Jurist. Er gehe trotzdem davon aus, dass die Jugendkammer das Verfahren zur Verhandlung zulassen werde – vorausgesetzt, Irmgard F. sei gesundheitlich in der Lage, sich dem Prozess zu stellen.

Im Konzentrationslager Stutthof hatten die Nazis unter anderem polnische Bürger, sowjetische Kriegsgefangene und Juden eingesperrt, gequält und getötet. So sollen die Insassen seit Sommer 1944 auf Befehl der SS in Berlin systematisch in einer Genickschussanlage und einer Gaskammer hingerichtet worden sein. Von mehr als 100.000 Insassen, die zuvor nach Stutthof gebracht worden waren, starben schätzungsweise 65.000 Menschen. Viele der dafür verantwortlichen Verbrecher wurden unmittelbar nach Kriegsende hingerichtet, darunter Lagerkommandant Max Pauly, zehn Offiziere und Unteroffiziere sowie sieben Aufseherinnen.

Paul Werner Hoppe, der im September 1942 Pauly – der wechselte als Kommandant in das KZ Neuengamme – als Chef des KZ Stutthof ablöste, kam glimpflich davon. Er wurde 1957 in zweiter Instanz wegen seiner Tätigkeit in Stutthof zu neun Jahren Haft verurteilt. Für ihn hatte Irmgard F. von ihrem 18. bis 20. Lebensjahr gearbeitet.

Sie hat sich nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ bislang nicht gegen Corona impfen lassen.