Elmshorn. Jedes fünfte Opfer häuslicher Gewalt ist ein Mann. Verein Wendepunkt ist eine der wenigen Anlaufstellen in Schleswig-Holstein.

Es fing mit der Handy-Kontrolle an. Irgendwann flogen Teller durch die Wohnung, weil ihr etwas nicht passte. Und beim nächsten Streit gab es eine Ohrfeige. So schildert Franz Schneider die Situation eines Mannes, der beim gewaltpräventiven Verein Wendepunkt in Elmshorn anrief und um Hilfe bat. Dieser Mann ist einer von wenigen in Deutschland, der über ein Thema spricht, das weiterhin noch ein Tabu ist: Gewalt gegen Männer.

Dass Männer auch Opfer ihrer Ehefrauen oder Partnerinnen sein können, ist für viele Menschen nicht vorstellbar. Denn zur traditionellen Männerrolle passen eher Begriffe wie Erfolg, Leistung, Härte, Macht, Distanz, Konkurrenz und Kampf. „Hauptsächlich richten sich die Delikte der Partnerschaftsgewalt gegen Frauen. Allerdings scheint auch die Partnerschaftsgewalt zum Nachteil von Männern von zunehmender Relevanz zu sein“, heißt es in der kriminalistischen Auswertung zum Thema Partnerschaftsgewalt von 2019 des Bundeskriminalamts.

2017 waren Zahlen des Bundesfamilienministeriums zufolge 18 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt Männer, 2019 waren es bereits 19 Prozent. Laut Kriminalstatistik sind von den mehr als 5000 Menschen, die im vergangenen Jahr in Schleswig-Holstein Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, 1083 männlich – das sind 21,4 Prozent.

Sascha Niemann von der Männerberatung in Elmshorn.
Sascha Niemann von der Männerberatung in Elmshorn. © Kitty Haug | KITTY HAUG

Gewalt gegen Männer: Hier bekommen Sie Hilfe

Das bestätigen auch die Zahlen im Tätigkeitsbericht der Elmshorner Beratungsstelle. 2020 haben sich 44 Männer an den Wendepunkt gewandt. Franz Schneider und sein Kollege Sascha Niemann vermuten eine hohe Dunkelziffer. Und die Tendenz ist steigend: Seit April 2021 haben sich bereits 20 Männer gemeldet.

Es sind Männer zwischen 20 und 60 Jahren, die anrufen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Männer, die es endlich schaffen, sich selbst einzugestehen, dass sie gerade Opfer geworden sind. Männer, die sich befreien konnten von dem tradierten Männerbild. Und das sei bereits ein großer Schritt, denn „der Mann hat da zu sein, wehrhaft zu sein und da passt es nicht rein, Opfer einer Frau zu sein“, sagt Niemann, der das Angebot der Männerberatung des Vereins leitet.

Das gesellschaftlich vorgegebene Klischee von Männlichkeit stehe vielen Männern im Weg. Die Opfer meldeten sich daher oft erst, wenn es bereits zu massiver körperlicher Gewalt gekommen oder gar die Polizei eingeschaltet worden sei, erklärt Schneider. „Das ist dann die Initialzündung. Wenn wir dann mit den betroffenen Männern sprechen, stellt sich raus, dass sie schon viel länger von häuslicher Gewalt betroffen sind“, so der Psychologe.

Häusliche Gewalt beginnt oft mit psychischer Gewalt

Denn häusliche Gewalt beginne oftmals mit einer schleichenden psychischen Gewalt, einer Manipulation des Partners etwa durch Kontrolle, das Lesen seiner E-Mails, Beleidigungen, Schuldzuweisungen oder dem Versuch, seine Sozialkontakte einzuschränken. Diese psychische Manipulation, im Fachkreis auch Gaslighting genannt, sei belastend für die Opfer und löse Stress aus. Natürlich leide auch das Selbstbewusstsein, insbesondere bei Menschen mit einer eher introvertierten Persönlichkeit. „Es wäre besser, Männer würden bereits ab diesem Zeitpunkt unsere Hilfe in Anspruch nehmen und nicht erst, wenn sie Platzwunden haben“, sagt Schneider.

Während Frauen sich bereits seit den 1970er-Jahren auf breiter gesellschaftlicher Ebene für ihren Schutz, für Rat und Hilfe einsetzen, sieht es bei Männerberatung eher schlecht aus. Um dem vermeintlich starken Geschlecht Hilfe zu geben hat das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein 2017 daher ein landesweites, wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt aufgelegt, das bundesweit einmalig ist.

Seit 2018 bieten insgesamt drei Träger in Schleswig-Holstein Männerberatung an: der Frauennotruf in Kiel, Pro Familia in Flensburg und eben der Wendepunkt in Elmshorn. Im Jahr 2020 haben sich 329 betroffene Männer an den drei Standorten beraten lassen. Anlass der Beratung war in 154 Fällen sexualisierte Gewalt in der Kindheit. In 111 Fällen war aktuelle oder auch zurückliegende häusliche Gewalt der Anlass für das Aufsuchen der Hilfe. In 32 Fällen spielten beide Gewaltformen eine Rolle, heißt es auf den Internetseiten der Männerberatung Schleswig-Holstein.

Viele Männer haben bereits in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen machen müssen

Viele Männer haben bereits in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen machen müssen. Verschiedene Studien legen nahe, dass jeder achte bis zwölfte Junge bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres Opfer sexualisierter Gewalt geworden sei. 60 Prozent der Jungen seien in ihrer Kindheit und Jugend geschlagen, getreten oder verhauen worden. Die psychischen Folgen dieser Gewalterfahrungen seien etwa Schlafstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen oder Belastungsstörungen. Auch diesen Opfern wird im Wendepunkt geholfen.

Männer ab 16, die Hilfe suchen, können sich direkt an einen der drei Träger wenden. In der Krückaustadt ist die Beratungsstelle telefonisch, per E-Mail oder auch persönlich zu erreichen. Bereits beim Notruf wird abgefragt, ob das Opfer sich lieber von einem Mann oder einer Frau beraten und begleiten lassen möchte. Ganz klassisch wird danach ein Beratungstermin verabredet. Den drei Elmshorner Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ist es wichtig, Verständnis zu zeigen, dem Mann zu erklären, was psychologisch bei ihm passiert, und ihm zu sagen, dass viele Männer diese Probleme haben.

Viele möchten einfach reden, ohne ausgelacht zu werden

„Viele möchten zuerst auch nur reden, möchten die Erfahrung machen, dass sie nicht ausgelacht werden“, sagt Sascha Niemann. „Im weiteren Verlauf erstellen wir Notfallpläne, in denen wir besprechen, wie der betroffene Mann sich bei einer nächsten Auseinandersetzung schützen kann. Denn die wenigsten kommen nach zwei oder drei Besprechungen zu dem Punkt, sich von der gewalttätigen Partnerin oder Ehefrau zu trennen oder auszuziehen, zumal wenn Kinder im Spiel sind.“ Kostenlos werden die Opfer dann bis zur Stabilisierung begleitet.

Informationen, Begleitung und Unterstützung gibt es im Umgang mit Behörden, Ämtern und anderen Institutionen und gegebenenfalls bei der Suche nach einem Therapeuten. Die Berater übernehmen die Begleitung im Strafverfahren, unterstützen auch bei einem Antrag auf Opferentschädigung oder nennen Rechtsanwälte, die in diesem Bereich gut geschult sind.

Die Anlaufphase des Projekts sei schwierig gewesen, aber mittlerweile nehmen immer mehr Männer die Hilfe an. Oftmals wenden sich die männlich Opfer häuslicher Gewalt – ähnlich wie betroffene Frauen – mit ihren Verletzungen zunächst an Hausärzte oder an Notaufnahmen. So kooperieren die Fachärzte des Netzwerks Urologie Schleswig-Holstein-Süd (Nuss) unter dem Vorsitz von Dr. Matthias Bauermeister aus Pinneberg eng mit dem Wendepunkt. In den Praxen der niedergelassenen Ärzte liegen Flyer und Plakate aus, die auf das Angebot der Männerberatung hinweisen.

Zusammenarbeit mit der Polizei ist sehr gut

Auch sei die Zusammenarbeit mit der Polizei sehr gut, dort habe es endlich einen Perspektivwechsel gegeben, sagt Schneider. Während bis vor wenigen Jahren eine Wegweisung (in der Sprache des Gesetzes: ein Platzverbot) bei einem Einsatz häuslicher Gewalt gegenüber dem Mann ausgesprochen wurde, werde jetzt seitens der Beamten „sehr akribisch die Situation vor Ort eruiert und dann auch die Entscheidung getroffen, die Ehefrau oder Partnerin wegzuweisen“.

Der Betroffenen werde von der Polizei auch auf Beratungsangebote hingewiesen. Ebenfalls sei Gewalt gegen Männer auch Thema verschiedener Studienabschlussarbeiten von Polizistinnen im höheren Dienst. „Es ist schon im System, dass Gewalt gegen Männer eine Rolle spielt“, sagt Niemann. Das sei gut.

Während in Schleswig-Holstein mittlerweile ein gutes Netz von Frauenhäusern existiert, gibt es für Männer keine Zufluchtsorte, sprich Männerschutzhäuser, auch nicht in der Metropolregion Hamburg. „Das bereitet uns Sorgen“, sagt Schneider, „denn es ist nicht leicht, den Mann bei Freunden unterzubringen – den besten Kumpel gibt es oft gar nicht mehr“. Und eine Einmietung in ein Hotel übersteige oftmals die finanziellen Mittel der Opfer. „Im Extremfall müssen wir ihnen eine kommunale Obdachlosenwohnung zuweisen“, sagt Niemann. Dort finden dann auch Väter mit ihren Kindern Zuflucht, denn Männern ist eine Aufnahme in Kinderschutzhäusern verwehrt. Niemann: „Da sind wir am Ball!“

Wendepunkt Elmshorn, Gärtnerstr. 10–14, Telefon 04121/47 57 30, E-Mail: maennerberatung@wendepunkt. Auch über Instagram und Facebook ist die Männerberatung zu erreichen.