Rellingen. Heiligabend 1963 steuert Eggert Lüthje die „Paul Rickmers“ durch einen Orkan, 15 Meter hohe Wellen schlagen über ihm zusammen.
„Schon als kleiner Junge habe ich die riesigen Schiffe auf der Elbe fahren sehen und mir gedacht: Da will ich unbedingt mit“, sagt sich Eggert Lüthje. Während seiner Schulzeit wusste der heute 75 Jahre alte Halstenbeker: „Ich will Kapitän werden!“ Als junger Mann trieb ihn das Fernweh tatsächlich auf die großen Weltmeere.
Es blieb eine Episode, denn bald zog sich der gebürtige Rellinger seiner heutigen Frau zuliebe aus dem Matrosenleben zurück und machte eine Ausbildung zum Reedereikaufmann. Aber an seine Zeit auf See muss er noch heute zurückdenken – insbesondere an die Geschichte von Weihnachten 1963. Es ist eine Geschichte von Wellen hoch wie Häuser, von Gischt im Gesicht, vom Geschmack von Salz auf der Zunge. Und von Heimweh. Eggert Lüthje erzählt.
Lüthje hat seine Seemannsausbildung auf der "Passat" gemacht
„Im Januar 1963 musterte ich als Leichtmatrose auf dem deutschen Motorschiff ,Paul Rickmers‘ am Schuppen 69 im Hamburger Hafen an. Ich war 17 Jahre alt. Für die nächsten zwölf Monate war das mein Lebensraum: 147 Meter lang, 18 Meter breit, 13.000 Bruttoregistertonnen mit 6000 Pferdestärken. Die maximale Geschwindigkeit betrug 14,5 Knoten (etwa 26 Stundenkilometer). Besatzung waren 26 Männer aus dem Heimathafen Hamburg.“
Ein Jahr zuvor hatte Lüthje eine Ausbildung zum Seemann auf dem Schulschiff „Passat“ gemacht und war anschließend auf einem Trampschiff durch ganz Europa gereist. „Wir waren in Schweden, Finnland, Irland und vielen weiteren Ländern“, sagt Lüthje heute. „Das Schiff fuhr immer dort hin, wo es gerade gebraucht wurde.“ Dadurch sei die Route nie vorhersehbar gewesen. Auf große Weltreise ging es dann mit der „Paul Rickmers". Lüthje erzählt weiter:
"Ich bekam langsam richtiges Heimweh"
„Die Reise ging über Antwerpen, dann durchs Mittelmeer. Wir passierten den ägyptischen Suezkanal, legten in Port Sudan sowie im ostafrikanischen Dschibuti an. Weiter ging die Reise durch den Indischen Ozean nach Port Kelang in Malaysia, Singapur, Bangkok, Hongkong, Shanghai und in viele Häfen Nordchinas. Als wir dachten, es ginge nach drei Monaten nun retour nach Europa, wurde uns in der Messe mitgeteilt, dass wir für weitere acht Monate an chinesische Reeder verchartert worden waren. Aus dem Linienschiff wurde ein Trampschiff, das zwischen den asiatischen Haupthäfen eingesetzt wurde. Eine einzige Reise führte uns erneut durch den Suezkanal. Dieses Mal ging es nach Albanien, Italien, Rumänien und schließlich wieder retour nach Fernost. Unser zweiter Heimathafen war quasi Shanghai, und ich bekam langsam richtiges Heimweh. Man schickte Briefe an die Familie, aber ans Telefonieren dachten wir auf beiden Seiten nie.“
„Lieber Kurt...“, schrieb Eggert Lüthje im Sommer 1963 aus Dschibuti an seinen Bruder. Die Postkarte hat er heute noch. Das Motiv auf der Vorderseite zeigt sein damaliges Heimatschiff „Paul Rickmers“ auf dem Suezkanal. Fünfmal hat Lüthje ihn durchquert.
Großes Weihnachtsfest an Bord geplant
Lüthke erzählt weiter: „Doch dann! Im Dezember 1963 übernahmen wir die ersten Ladungen in Hongkong, bestimmt für Rotterdam, dann viele schöne Kisten bestimmt für Antwerpen, und? Ja! Hamburg! Leinen los in Singapur und Kurs Europa. Am 23. Dezember fuhren wir durch die Straße von Malakka. In der Mannschaftsmesse wurde von der gesamten Crew fieberhaft diskutiert, wie wir zünftig und feierlich das Weihnachtsfest an Bord zelebrieren wollten. Eine frische Zeder war der Ersatz für den Tannenbaum, und um diesen geschmückten Baum herum sollte kräftig gefeiert werden. Der Swimmingpool wurde aus einer großen Persenning gebaut und mit Wasser gefüllt. Es wurde ein richtiges Programm erstellt, unter anderem mit Dosenwerfen, Musik von umgebauten Teekisten und einer Mundharmonika. Die Offiziere versprachen uns eine lustige und würdige Bescherung. Der Kapitän sollte den Start der Weihnachtsfeier geben, indem er die Weihnachtsgeschichte vorlesen wollte. Der Koch versprach Delikatessen vom Grill, und Weihnachten konnte nun an Bord kommen.“
"Doch leider kam es ganz anders. Morgens am 24. Dezember im Indischen Ozean - Kurs 290,3 Grad West - wurde von uns ein Orkantief mit mindestens zwölf Windstärken anvisiert. Bei Colombo in Sri Lanka hatte dieser Taifun schon für ein Wahnsinnschaos gesorgt: Schiffe mit Besatzungen wurden vermisst oder trieben in Seenot. Der Taifun kam direkt auf uns zu! Es gab nur eine kurze Mannschaftsbesprechung in der Messe für die gesamte Crew. Die klare Devise lautete: Alles an Bord niet- und nagelfest machen. Luken speziell mit Stroppen sichern, das Ladegeschirr verkanten, alle Stahlschotten und Bullaugen festschrauben. Auch innerhalb der Logis, Messe, Waschräume, Kammern, alles sichern, festbinden oder schrauben. In den Gängen wurden extra Seile gespannt, an denen man sich festhalten sollte. Alles war extrem hektisch und überhaupt nicht weihnachtlich. Die Feier war nur noch ein flüchtiger Traum, sie wurde sofort abgesagt."
15 Meter hohe Wellen schlagen gegen das Schiff
Die echten Naturgewalten dieses unglaublichen Hurrikans zeigten sich bereits am frühen Nachmittag. Das Schiff schaukelte, zitterte und rollte in der aufgewühlten See wie eine winzige Nussschale. Wellen, bis zu 15 Meter hoch, schlugen mit einem Riesendruck aggressiv gegen die Schiffswände, als ob die Schweißnähte und Nieten gleich brechen wollten. Trotz der festen Türschotten und Bullaugen fand die schäumende Gischt irgendwie ihren Weg in unsere Mannschaftsgänge, und wir bekamen Angst, dass das Meerwasser auch gnadenlos in unsere Kammern vordringen würde.“
„Wir hatten schon Todesangst, als wir in diesen Sturm gerieten“, erinnert sich Eggert Lüthje noch heute „Er kam sehr überraschend.“ Besonders schlimm sei gewesen, dass sie bereits gewusst hätten, dass andere Schiffe in diesem Hurrikan gekentert waren. Trotzdem: Er sei immer noch hochseeaffin, sagt der 75-Jährige. „Im Herzen bin ich ein Seemann geblieben.“ Nur die Liebe habe ihn davon abbringen können, seinen Kindheitstraum aufzugeben. In seiner Tätigkeit als Marketing-Verkaufsmanager bei verschiedenen Reedereien sei er jedoch immer wieder in den fernen Osten gereist.
"Still ruht die See? Im Gegenteil"
Lüthje erzählt weiter: „Am frühen Abend drehte der Kapitän das Schiff etwas nach Backbord und ging auf halbe Kraft, um diesen Wahnsinnsorkan irgendwie besser abzuleiten. In den Gängen des Schiffs stand ein übelerregender Dunst, angereichert durch das ekelhafte Gemisch aus Dieselöl der Maschine und die tropische, feucht-warme, salzige Luft. Das Schiff stampfte, schlingerte und rollte wie ein kleiner wehrloser Spielball, der sich vor der Naturgewalt zutiefst verbeugte. Der Schiffsgenerator, der für Strom an Bord sorgen sollte, setzte hin und wieder aus. Bei den Ausfällen wurde es stockdunkel, und ohne Strom wurde das Schiff manövrierunfähig, war dem Indischen Ozean gnadenlos ausgeliefert.
Stille Nacht, heilige Nacht? Still ruht die See? Nein, das hier war das komplette Gegenteil. In unserer Kammer hing kein Bild mehr an der Wand, und die Spindtüren hatten wir einfach festgenagelt. Über den Kojen hatten wir Quertampen gespannt und eine zusätzliche Schlingerleiste gebaut. Um 24 Uhr sollte ich pünktlich auf der Brücke erscheinen und den Rudergänger ablösen. Bei jedem starken Stampfen des Schiffs stieß ich entweder mit dem Kopf oder mit den Füßen unsanft gegen die Holzwände. Es war 20 Uhr, als ich noch einmal die Alarmglocke über meiner Koje betrachtete und die eingerahmten Befehle bei einem eventuellen SOS sorgsam durchlas. In einem solchen Fall sollte ich sofort zum Rettungsboot Nummer vier. Wir hatten das schon x-mal in der Theorie geprobt. Sollte es jetzt wahr werden? Bitte, bitte nicht! Meine Rettungsweste legte ich vorsichtshalber gleich in meiner Koje.
"Schiffe gucken" gehört noch heute zu Lüthjes Hobbys
Ich dachte an zu Hause und daran, wie dieser Abend dort immer ablief: Mit dem schmackhaften Putenbraten und dem köstlichen, festlichen Weihnachtsaroma. Und hier stank alles nach Schmieröl. Irgendwie, vor Angst und totaler Erschöpfung, schlief ich dann ein.“
Einen großen Teil seiner Kindheit habe er in Hamburg verbracht, erzählt Lüthje. „Schiffe gucken“ gehöre heute immer noch zu seinen Hobbys. Diese Begeisterung teile er mit seiner Frau. Bei den Schiffsparaden anlässlich des Hafengeburtstages seien sie immer dabei. „Das lässt mein Herz höher schlagen“, sagt Eggert Lüthje. Und ist in Gedanken wieder am Heiligabend 1963:
Plötzlich ist das NDR-Radioprogramm auf der Brücke zu hören
„Um 23.45 Uhr wurde ich unsanft geweckt, unter dem Motto: Auf, auf ihr Müden! Lieber, die Pier steht voller nackter W... Oben auf der Brücke sagte man gerade eben noch „Gute Wache“ und murmelte „Schöne Weihnachten!“, bevor man unter Deck verschwand. Ich übernahm das Ruder, und wir machten wieder volle Fahrt voraus, weil der Sturm endlich an Kraft verloren hatte. Auf der Brücke war es stockdunkel. Der Kompass, der Ruderanzeiger und das Radargerät zeigten ein flimmerndes Licht, und aus dem Funkraum kam ein kleiner Lichtschein. Ja, damals in Bethlehem war es wohl auch nicht heller. Der wachhabende Offizier gab mir eine Kurskorrektur bekannt, die ich sofort ausführte. Zwischendurch erschienen der Kapitän und der Funker auf der Brücke und wünschten uns frohe Weihnachten.
Obwohl der Sturm abflaute, schlackerte und stampfte unser Schiff immer noch nach dem Willen der relativ hohen Wellen, und nach wie vor erreichte die Gischt die Brückenfenster. Der Funker war in seinem Funkraum und reparierte erfolgreich seinen Empfänger. Nanu, was war denn das? Plötzlich Weihnachtsmusik auf der Brücke? Dazu auch noch Musik, wie ich sie nur aus Schulau vom Willkomm-Höft kannte: „Steuermann lass die Wacht...“ Dann die markante Stimme des Radiosprechers Hermann Rockmann vom NDR: „Gruß an Bord!“ Ich hörte Herrn Rockmann sagen: „Wir grüßen das Schiff ,Paul Rickmers‘, seit zwölf Monaten nicht mehr im Heimathafen und jetzt auf Heimreise.“ Freddy Quinn musste das Lied „Junge, komm bald wieder...“ anstimmen.
Danach hörte man die piepsigen Stimmen von Kindern, die ihren Vater, den Ersten Offizier Eschenhagen, sehr herzlich grüßten, sowie seine Ehefrau, die ihren Mann doch endlich wieder in die Arme schließen wollte. Nun traute ich meinen Ohren nicht mehr. Das kann doch einfach nicht wahr sein! Mien Mudder war wahrhaftig am Mikrofon und sprach so ähnlich wie Heidi Kabel vom Ohnsorg Theater… „Mien Eggert, dat du nun Wiehnachten nicht tu Huus bist, is nich so schön. Weißt du noch letztes Jahr? Komm endlich nach Huus... wie tövt all up die.“
"Rolling home to me old Hamburg"
Wie eine Salzsäule war ich am Ruder erstarrt. Das Trompetensolo aus dem Hamburger Michel sowie die Ansprache vom Bürgermeister Nevermann vernahm ich nur im Unterbewusstsein. Doch dann schallte es lautstark aus dem Bordradio. Der Hamburger Shantychor von der Hamburger Hafen und Logistik AG sang „Rolling home, rolling home, rolling home to me old Hamburg.“
Es war noch immer stockdunkel auf der Brücke. Der Erste Offizier saß an Backbord, der Kapitän hing auf seinem Hocker an Steuerbord, und der Funker lag auf seiner Bude. Ich hielt das große Steuerrad krampfhaft fest. Die Gischt des Indischen Ozeans spritzte immer noch in die Höhe und muss wohl einmal unsere Augen erwischt haben, denn was an unseren Wangen herunterlief, war nass und salzig.
Ich summte weiter vor mich hin „Rolling home, rolling home, rolling home to me old Hamburg.“ Kurs 290,3 Grad liegt an. In 21 Tagen sind wir wieder zu Hause.“
Weihnachten soll für Eggert Lüthje immer eine besondere Bedeutung behalten. Sieben Jahre nach dieser abenteuerlichen Reise, Heiligabend 1970, kommt seine Tochter zur Welt... Herzlichen Glückwunsch zum runden Geburtstag!
(Mitarbeit: Alexandra Schrader)