Wedel. Betreiber investiert 50 Millionen Euro. Während der Arbeiten herrscht drinnen eine beinahe sakrale Atmosphäre. Ein Besuch.

Kein Fauchen, kein Zischen – nichts. In der Herzkammer des Ungetüms herrscht Stille. Wo sonst große Rohre wie Arterien gewaltige Mengen Kohle in den mit rostroten Wasserleitungen verkleideten Innenraum pressen, um ein 1000 Grad Celsius heißes Höllenfeuer zu entfachen, kurzum: wo sonst das Herz der konventionellen Energiegewinnung schlägt, ist momentan fast andächtige Ruhe. Ganz oben, im 40 Meter hohen Kesselraum des Kraftwerks Wedel, brennt sogar ein sakral scheinendes Licht.

Fast das ganze Jahr hindurch werden hier Wärme und Strom mit Wasserdampf betriebenen Turbinen produziert. Jedes Bauteil dieser riesigen Maschine ist auf die optimale Verbrennung fossiler Rohstoffe und maximale Energienutzung ausgerichtet. Umso merkwürdiger mutet es an, wenn dieser kaum ruhende Apparat aus Stahl und Beton einmal im Jahr – meist im Sommer – still steht. Dann lässt die zweimonatige Revision im vielleicht umstrittensten Steinkohlemeiler der Republik sogar den Besuch in seiner stählernen, erkalteten Herzkammer zu.

350 Menschen arbeiten 4000 Modernisierungsaufträge ab

Das 1961 in Betrieb genommene Kraftwerk ist schon mehrfach erneuert und fast ebenso oft zum Sterben verurteilt worden. Schon 2012 und 2017 sollte es vom Netz, doch politische Entscheidungen ließen es unverzichtbar für die Wärmeversorgung Hamburgs werden. Nun soll spätestens 2025 Schluss sein. Doch für die letzten fünf Jahre braucht es wieder „lebenszeitverlängernde Maßnahmen“, also Modernisierungen, die jetzt, während der jährlichen Überholung, umgesetzt werden. Fast 50 Millionen Euro pumpt der Eigentümer, die Stadt Hamburg, noch einmal in das in Verruf geratene Kohlekraftwerk am Elbufer. 50 Firmen mit 350 Mitarbeitern arbeiten derzeit 4000 Modernisierungsaufträge ab. Der dem Tode geweihte Patient „HKW Wedel“ kommt noch einmal an den Tropf.

Markus Wonka leitet nach der Übernahme die ehemalige Vattenfall-Kraftwerksgruppe beim neuen Betreiber, der Wärme Hamburg GmbH. Während des Rundgangs durch den ruhenden Meiler macht er kein Geheimnis aus dem von ihm verwalteten Dilemma. Einerseits wisse er, dass die Anlage mit ihren zwei Blöcken so alt ist, dass es nicht nur wegen der Anwohnerbeschwerden über ätzenden Ascheregen ratsam wäre, das Kraftwerk abzuschalten. Denn auch der beschlossene Kohleausstieg oder die aktuelle Klimapolitik sprächen dafür. Andererseits werde der Wedeler Meiler aber noch für die Energieversorgung gebraucht, solange es keinen Ersatz gibt. Immerhin hängen etwa 120.000 Haushalte an der Wärme aus Wedel. „Das Ärgernis der Nachbarn können wir nachvollziehen“, sagt Wonka. „Aber wir halten die gesetzlichen Grenzwerte ein.“

Anfallender Gips wird an die Bauindustrie verkauft

Ungeachtet des Gutachterstreits mit den klagenden Anwohnern über Grenzwerte und mögliche Gesundheitsgefahren durch Flugasche wird das Kraftwerk nun für seine voraussichtlich letzten fünf Jahre fit gemacht. Neben der Elektrik, an der 8700 Signale ausgetauscht werden, und dem runderneuerten Leitstand liegt das Augenmerk der Revision vor allem auf den Abgas- und Verbrennungsanlagen. Kessel, Kühlwasserleitungen und Entschwefelungsanlage sind derzeit komplett leergeräumt. Große Mengen Ruß, Schlick und Gips als Abfall- und Nebenprodukte der Kohleverbrennung wurden abgetragen. 400.000 Kubikmeter Rauch produziert das Kraftwerk sonst in nur einer Stunde. Er wird in drei Schritten gereinigt.

Allein am Boden des sogenannten Wäscherturms (37 Meter), in dem bei Vollbetrieb durch Berieselung der Schwefel aus dem Rauch „gewaschen“ wird, steht sonst ein sechs Meter hoher Gipsbrei – jetzt ist er besenrein. Der anfallende Gips wird übrigens genauso an die Bauindustrie weiterverkauft wie die einen Schritt vorher herausgefilterten 50.000 Tonnen Flugasche pro Jahr. „Das ist ein begehrter Baustoff“, sagt Wonka. Schon vor Schwefel und Flugasche werden die Abgase von Stickoxid befreit.

Doch trotz dieser Reinigungsschleifen, die nun abermals überholt und gewartet werden, hat das fast 70 Jahre alte Kraftwerk anscheinend lebensdauerbedingte Schwächen. Offenbar bläst es immer wieder Partikel in die nähere Umgebung, wie die Anwohner feststellen und dokumentieren. Ein Problem, für das es laut Betreiber keine darstellbare weitere technische Lösung gibt.

Revision steht unter dem Eindruck der Corona-Krise

Eine Stellungnahme des Instituts Ökopol hingegen weist darauf hin, dass der Gasvorwärmer, der nach der Entschwefelung den Rauch wieder aufheizt „als Säurefalle wirkt“ – das Problem also dort zu suchen sei. Doch bei der millionenschweren aktuellen Ertüchtigung werde es laut Hamburger Senat (siehe Text unten) keine zusätzlichen Maßnahmen zur Reduzierung des Auswurfs geben.

Dafür steht die diesjährige Revision in Wedel unter dem Eindruck der Corona-Krise. 70 zusätzliche Toiletten in zwei Containerdörfern wurden eilig für die Vielzahl von externen Arbeitern aufgebaut. Eine doppelte Sicherheitskontrolle und ein Verpflegungszelt im Freien sollen die Infektionsgefahr minimieren. Auf dem gesamten Gelände herrscht Mundschutzpflicht für die 100 Kraftwerksmitarbeiter sowie die 350 zusätzlichen Maurer, Elektriker oder Gerüstbauer, die bei der Instandhaltung helfen. Handwasch- und Desinfektionsstationen säumen die Wege über das Gelände. Bisher habe es keinen Coronafall gegeben.

Architekt der Grindelhochhäuser entwarf die Turbinenhalle

Die denkmalgeschützte, von Bernhard Hermkes entworfene Turbinenhalle des Kraftwerks Wedel ist riesengroß. Betriebsleiter Jakobus Gäth (l.) und der Arbeitsschutzbeauftragte Tobias Hellwig beim Rundgang.
Die denkmalgeschützte, von Bernhard Hermkes entworfene Turbinenhalle des Kraftwerks Wedel ist riesengroß. Betriebsleiter Jakobus Gäth (l.) und der Arbeitsschutzbeauftragte Tobias Hellwig beim Rundgang. © HA | Nico Binde

In der riesigen Turbinenhalle, immerhin von Bernhard Hermkes entworfen, dem Architekten der Hamburger Grindelhochhäuser und des Großmarktes, arbeiten Ilia Reyder und Nils Fortanz gerade an der erneuerten Elektrik. Die passt nun in neun statt in zwölf Schränke. Mit den Technikkomponenten im Kraftwerk sei es wie mit Computern generell. Sie werden immer kompakter.

Während das Kraftwerk von Anwohnern als nerviger Störfall betrachtet wird, wirkt der Meiler beim Rundgang zwar an vielen Stellen in die Jahre gekommen – der Lack ist im wahrsten Sinn oft ab –, aber eben auch funktionstüchtig und für das energetische Gleichgewicht anscheinend noch bedeutend. Der riesige Komplex ist deshalb durchaus mit einem Dinosaurier zu vergleichen, dessen Zeit gekommen ist. Zumindest dürften Tyrannosaurier bis zu ihrem Aussterben auch von den direkten Nachbarn als gesundheitliche Bedrohung wahrgenommen worden sein. Und das womöglich nicht ganz zu Unrecht.

Was Hamburger Politiker über das Kraftwerk Wedel sagen

Neuer Koalitionsvertrag in Hamburg, neue Hoffnung für Wedels Kraftwerksgegner? Das wird wohl nur die Zeit zeigen. Immerhin gibt es nun aber einen konkreten Termin für die endgültige Abschaltung des umstrittenen Meilers. Nachdem Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) zuvor vom Jahr 2025 gesprochen hatte, hat sich der Eigentümer, die Stadt Hamburg, nun in einer aktuellen Senatsantwort auf eine Anfrage der Linken festgelegt. Demnach soll der Meiler maximal bis zum Frühjahr 2026 betrieben werden. Ein früheres Ende wird auch nicht ausgeschlossen.

Für die Anwohner, die seit Jahren ätzenden Ascheregen aus dem Kraftwerksschlot beklagen, sei diese Aussicht alles andere als erfreulich, sagt Kerstin Lueckow, Sprecherin der Bürgerinitiative. Für die Partei Die Linke ist die Senatsantwort gar eine Offenbarung, da sich der geplante Kohleausstieg der Stadt um ein weiteres Jahr verzögern könnte. „Faktisch gibt der Senat damit eine Garantie, dass der Kohlemeiler bis 2026 weiterlaufen darf – das ist unzulässig und ein energiepolitischer Skandal“, so Stephan Jersch, umweltpolitischer Sprecher der Fraktion. Hamburgs Kohleausstieg war bis zum Jahr 2025 geplant, laut neuem Koalitionsvertrag soll ab 2030 keine Kohle mehr verfeuert werden.

Hamburg gehe als Eigentümer des Kraftwerks Wedel davon aus, dass die „Abschaltung 2025 erfolgen kann“, heißt es in der Senatsantwort. Voraussetzung dafür sei aber ein „stabiler Dauerbetrieb“ des Ersatzbaus an der Dradenau im sogenannten Energiepark Hafen. Vom kommenden Jahr an soll dort gebaut werden, der Probebetrieb 2023/24 beginnen.

Bekanntlich unterzieht der Betreiber des Wedeler Kraftwerks, der Energieversorger Wärme Hamburg GmbH, die zwei Blöcke momentan einer Revision. Unternehmensangaben zufolge ruht Block 1 bis zum 6. Juli für Überholungen, Block 2 noch bis zum 20. Juli. Auf Anfrage der Linken sind die Gesamtkosten der damit verbundenen „Lebensdauerverlängerung“ mit 50 Millionen Euro beziffert worden. Explizite Investitionen zur Beseitigung des Niederschlags ätzender Partikel seien aber nicht dabei, antwortet der Senat. Stattdessen wird auf die Modernisierung in den Jahren 2016 und 2017 verwiesen, als „umfangreiche Minderungsmaßnahmen umgesetzt“ worden seien, die „zu einer deutlichen Reduzierung der Partikelemissionen geführt haben“. Eine Bewertung des Instituts Ökopol war aber erst jüngst zu dem Schluss gekommen, dass alle Maßnahmen zur Minderung des Partikelausstoßes wirkungslos geblieben seien.

CDU stimmt in die Kritik der Linken ein

Kerstin Lueckow wirft dem Senat vor, mit Falschaussagen zu argumentieren. In der aktuellen Senatsantwort werde behauptet, dass das Kraftwerk Wedel nach dem Stand der Technik betrieben werde. Das hält auch Stephan Jersch für absurd. Denn das Steinkohlekraftwerk habe eine bundesweit einmalige Partikelemissionen. Wie angesichts dessen vom Senat behauptet werden könne, das Immissionsschutzgesetz werde eingehalten, sei ihm schleierhaft.

Dass Gutachten laut Senat bestätigt hätten, dass durch die Partikel weder eine Gesundheitsgefahr besteht noch Lackschäden hervorgerufen werden, sei ebenso unglaubwürdig. Lackschäden seien durch Gerichtsgutachter chemisch nachgewiesen, eine Gesundheitsgefahr erst jüngst festgestellt worden. Der Senat schreibt dagegen von einem „nicht nachvollziehbaren Schadensursprung“.

Die Senatsantwort zeige laut Jersch, dass „Rot-Grün beim Kraftwerk mauert“. Sogar die CDU stimmt in die Kritik ein: „Rot-Grün hat für den Schutz des Klimas fast nichts erreicht. Außer wirkungslosen Fahrverboten und Bienenstöcken auf Behördendächern wurde kaum etwas umgesetzt. Die wichtigen Projekte wie das Konzept zum Ersatz des Kraftwerks Wedel, wurden noch immer nicht gestartet“, sagt Stephan Gamm, energiepolitischer Sprecher der CDU.