Pinneberg. In ihrem neuen Buch verpackt die Pinneberger Autorin das Leid in unterhaltsame Erzählungen. Worum es sonst noch geht.

Sechs Geschichten auf 100 Seiten – Sibylle Hallbergs neues Buch „Die reinste Wahrheit“ ist kompakt, aber gehaltvoll. Kaum aus einem Guss wie ihr letzter Band „Bloß im Himmel“, verfolgt die Pinneberger Schriftstellerin diesmal ein Ziel, das sie in jeder Geschichte auf anderem Weg erreicht und das sie ihren Lesern in direkter Ansprache in einem Prolog mitteilt: „Ich möchte… dass Sie beim Lesen Ihre Seele spüren, dass Sie Ihr Herz schlagen hören und sich Ihre Augen mit Tränen füllen – sei es vor Lachen oder vor Weinen.“

Das klingt gefühlig, ist es aber nicht, denn Sibylle Hallberg erzählt gradlinig, schnörkellos und meidet Kitsch. Nur einmal erliegt sie der leichten, auch zeitbedingten Überhitzung desjenigen, über den sie schreibt, denn dieser war selbst ein von ihr bewunderter, berühmter Schriftsteller, der in seiner Autobiografie „Die Welt von gestern“ beschrieb, wie sich seine einst so idealistische, paneuropäische Welt mit den beiden Weltkriegen immer weiter verengte. Sein Name: Stefan Zweig. Unvergessen und heute wieder brandaktuell zu lesen.

Jede ihrer Geschichten beruht mehr oder weniger auf wahren Begebenheiten. Sibylle Hallberg gibt allerdings zu bedenken, „dass vergangene Wahrheiten möglicherweise hier und da mit blühender Einbildungskraft zugunsten des Spannungsbogens verschmolzen sind“. Mit ihrem Band will sie „ein Zeichen setzen gegen Krieg und Menschenverachtung. Gleichzeitig möchte ich eine flammende Rede halten für den Frieden, für das Leben und für die Liebe.“

Die Kunst der malenden Magd gefiel den Nazis nicht

Die Unschuld der Menschen, mit denen sie sich beschäftigt, ist in jeder Geschichte zu spüren. Doch geht es Sibylle Hallberg weder um Moral noch um Bezichtigung. Sie schafft Raum, um lesend zuzuhören, welche Tragweite ein menschliches Schicksal besitzen kann, und was einzelne auch noch so verschrobene Menschen in diesem Buch zu sagen haben. Das wiegt schwer, auch wenn die Autorin gekonnt das Unterhaltende, sogar Witzige und Leichtlebige mit dem daraus hervorbrechenden inneren Leid verschnürt. Wie bei einer Frau, die beim forschenden Erinnern an den ersten eigenen Kuss auf geraubte Küsse erwachsener Männer und auf Missbrauch stößt, die sie allesamt verdrängt hatte.

Gleich einer Faust landet das Ende der ersten Erzählung in der Magengrube: „Die unschuldige Malerin“, die Mooslechner Annie, schuftet als Magd auf einem Bauernhof in der Steiermark. Sie hat einen Buckel und schaut schief, ist aber ungeheuer fleißig und für ihre hartherzigen Herrschaft ein Segen. Der schwerhörige alte Großvater, mit dem sich niemand unterhält, bringt sie auf die Idee, nachts bei Kerzenschein in ihrer Kammer mit dem Malen anzufangen.

Als die Bäuerin sie, weil sie einen Apfel genommen hat, aus dem Haus wirft, versucht sie ihr Glück auf der nahen Burg Motzersberg, wo ein neues Leben der Wertschätzung und Freundlichkeit auf sie wartet. Jäh endet ihr Glück, als zwei Uniformierte aus einem hakenkreuzbeflaggten Auto aussteigen. Sie hatten ihre wilden Blumenbilder und dann sie gesehen und kamen, um sie abzuholen. Damit ihr Schicksal besiegelt, das heute unter den Stichworten „Euthanasie“ und „Entartete Kunst“ abstrakt durch die Geschichtsbücher wabert.

Stefan Zweigs Haus aus der Nähe betrachtet

Auch das Haus von Stefan Zweig hat Sibylle Hallberg besucht, den Salzburger Kapuzinerberg bestiegen, um das versteckte, stille Haus von Nahem zu sehen und ihn sich in seinem Garten besser vorstellen zu können. Das geistige Sterben Europas durch das Wüten der Nationalsozialisten konnte der Dichter Stefan Zweig nicht verwinden, weshalb er und seine Frau Lotte sich in den Bergen bei Rio de Janeiro 1942 das Leben nahmen.

Als Bruch nimmt der Leser dann die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte „Nachtschwärmer“ wahr, aber auch hier formt Hallberg den Kern aus einer Liebesbeziehung, die sich jahrzehntelang gegen die Missgunst anderer behaupten musste. Die nächsten beiden Geschichten nehmen ihren Ausgangspunkt in der Gegenwart, in die zwei hochbetagte Frauen hineingelebt haben, ohne das große Chaos in ihrem Inneren jemals verwunden zu haben. Die eine, Lena, reist in ihre sibirische Heimat zurück, um dort an die Wahrheit zu erinnern, die einer gefährlichen Verklärung gewichen ist: Stalin war ein Massenmörder und kein Volksheld, weiß Lena. Sieben ihrer neun Geschwister waren durch das unmenschliche Terror-Regime an Unterernährung und Krankheiten gestorben.

Warum auch „Omas Geschichte“ nicht die einer verbohrten Greisin ist, die trotz Komfortmangels nie mehr umziehen will, erzählt Sibylle Hallberg in der Ich-Form. Denn was für harten Tobak ihr diese Oma als Kind erzählt hat, das wird ihr erst nach deren Tod klar. Oma war zwangsverheiratet worden mit Gottfried, der später ein erzbrutaler Vater im Rollstuhl wurde. Wie durch ein Wunder überlebte dann ihr heiß geliebter Sohn Oswald den Krieg, auch wenn von der elterlichen Wohnung nach einem Bombenangriff nichts mehr übrig war. „Nun war mir klar geworden, dass Oma keine Abwechslung mehr brauchte und schon gar keine Abenteuer“, schreibt Sibylle Hallberg. „Ihre Kraft reichte nur noch für ihr gewohntes, unaufgeregtes Leben.“

Sibylle Hallberg, „Die reinste Wahrheit“ ihleo Verlag, 101 S., 15 Euro