Sāo Bartolomeu de Messines. Abendblatt-Autor Andreas Daebeler ist nach Portugal ausgewandert. So erlebt der Journalist die Corona-Krise am anderen Ende Europas.
Ein ganz normaler Sonnabend: Rund um die Markthalle unserer kleinen Stadt Sāo Bartolomeu de Messines tobt das Leben. Alte Männer prosten sich mit Medronho zu. Diesem etwas knarzigen Obstler aus den nahen Bergen. Frauen tragen Orangen, Gemüse und Fisch aus der Halle. Die Cafés sind voll. Überall Stimmengewirr. Lebensfreunde à la Algarve. Drei Wochen ist das jetzt her.
Heute ist diese Normalität verloren gegangen. Auch in Portugal herrscht Coronanotstand. Wir leben dort, wo Deutsche sonst Urlaub machen. Und wollen von einem disziplinierten, konsequenten und für uns erstaunlich unaufgeregten Umgang mit der Bedrohung berichten. In einem Land, das ähnlich überaltert ist wie Deutschland, dessen staatliches Gesundheitssystem aber hinterher hinkt.
Mitte März geht’s eigentlich los. Sie kommen: Briten, Niederländer, Franzosen. Und natürlich Deutsche. Der nord- und mitteleuropäische Winter ist lang, in der Algarve ist es mild, mit Glück sogar schon richtig warm. Und die Touristen bringen Geld mit. Für Filipe, den portugiesischen Barmann aus dem schnuckeligen Küstenort Carvoeiro, beginnt jetzt die beste Zeit. Er hat sich durch den Winter geschleppt. Die nächsten Monate finanzieren ihm und seinen vielen Kindern eigentlich das Leben. Das wird diesmal nicht so sein.
Durch Carvoeiros Straßen fahren Polizeiwagen mit Lautsprechern, aus denen vorm Rausgehen gewarnt wird. Vielleicht wird es die kleine Kneipe namens Sully’s nach der Epidemie gar nicht mehr geben. Filipe jammert dennoch nicht, er bleibt zu Hause, appelliert an den Menschenverstand, postet im Netz fröhliche Musikvideos. Er verteilt virtuelle „beijinhos“, weil es ganz ohne Küsse in diesem Land einfach nicht geht. Und hofft, dass seine Gäste irgendwann wiederkommen. Dass sie dann eben noch ausgelassener feiern, noch mehr tanzen und trinken.
Auch Filipe liest die täglichen Statistiken. Die aktuelle Zahl der mit Covid-19-Infizierten mag mit rund 3500 auf den ersten Blick klein erscheinen. Allerdings hat Portugal nur zehn Millionen Einwohner. Derzeit werden täglich so um die 500 neue Fälle registriert. Es sind 60 Tote zu beklagen. Obwohl die Grenzen zu Spanien schon seit Mitte März geschlossen sind. Portugal hat ohne viel Zögern den nationalen Notstand ausgerufen. Der kommt einer Ausgangssperre mit Ausnahmen gleich, verbietet zudem potenziell Gefährliches wie das Motorrad- und Fahrradfahren, damit Notaufnahmen nicht zusätzlich belastet werden. Die Behörden gehen konsequent vor. Es kommt sogar zu vorübergehenden Festnahmen.
Der Portugiese hamstert Fisch und Rotwein
Wir erleben die Menschen hier als diszipliniert. Aber Hamsterkäufe gibt es auch in der Algarve. Das Bunkern von Toilettenpapier scheint es europaweit zum Volkssport gebracht zu haben. Portugiesen räumen zudem Truhen mit tiefgefrorenem Fisch aus. Und horten fünf oder zehn Liter große Kanister mit Rotwein. Wer jetzt noch einen Flug in die Algarve besteigt, muss nach der Ankunft in eine zweiwöchige Quarantäne. Die Regierung hat angeordnet, dass Passagiere noch am Flughafen mittels Infrarot auf Fieber getestet werden. Am Stadion in Faro ist eines von mehreren öffentlichen Testzentren eingerichtet worden. Die große Leere – für die Algarve wird sie zu einem existenziellen Problem werden, wenn die Krise länger andauert und Touristen wegbleiben.
Dass sie aktuell auch eine Chance birgt, verdeutlicht eine Zahl. Gerade einmal 89 bestätigte Covid-19-Fälle sind bislang in der ohne Urlauber dünn besiedelten Region am Atlantik aktenkundig. Brennpunkte der Epidemie sind Lissabon und Porto mit ihren großen Flughäfen und internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Etwas gespenstisch ist es, die in weiße Schutzanzüge gekleideten Arbeiter zu sehen, die mit Kanistern und Sprühpistolen herumlaufen. Sie desinfizieren Eingänge und öffentliche Orte. Nicht nur in den großen Metropolen, sondern auch in Lagos und bei uns im Hinterland. Wir fragen uns, ob das tatsächlich etwas bringt. Sicher sind wir, dass solch ein Anblick die Menschen zumindest für den Ernst der Lage sensibilisiert. Auch wir ertappen uns bei dem Gedanken: schnell nach Hause.
Knapp 20 Prozent der Portugiesen sind älter als 64 Jahre. Rentner treffen sich normalerweise draußen an der Straße, stellen ihre Plastikstühle auf, plauschen und betrachten das an ihnen vorbeirauschende Leben. Jetzt, in der Not, werden sie in und von ihren Familien umsorgt. Das Alter genießt großen Respekt. Betritt ein Rentner das Geschäft, machen junge Leute an der Theke stets Platz. Eine Kultur, die den Portugiesen auch in dieser Krise zur Hilfe kommen kann. Supermärkte reservieren die Stunden bis zum Mittag für Senioren. So wird der Kontakt mit anderen Altersgruppen vermieden. Gemeinden organisieren Einkaufshilfen und Transporte.
Portugal hat es dringend nötig, glimpflich davonzukommen. Die Wirtschaftskrise hat das Land hart getroffen. Der Sparzwang hat auch vor dem staatlichen Gesundheitssystem keinen Halt gemacht. Das Krankenhaus in Portimão etwa, eine zentrale Klinik der westlichen Algarve, ist baulich in einem bedenklichen Zustand. Als wir dort in einem Flur auf ein Behandlungsgespräch warten, tropft uns Wasser aus einer maroden Leitung über uns auf den Kopf. Die Ärzte hingegen, die wir kennenlernen, machen einen großartigen Eindruck. Aber sie können nur mit dem arbeiten, was da ist. Verfügt Deutschland über 29 Intensiv-Betten pro 100.000 Einwohner, sind es in hier lediglich 4,2. Auch an Laborkapazitäten mangelt es.
In Portugal gibt es ein Wort, für das keine deutsche Übersetzung passt. Die „saudade“ vereint Sehnsucht mit der Leidensfähigkeit. Sie ist das Instrument, auf dem der Fado spielt. Und ein Band, das die Menschen zusammenhält. Das Mut transportiert und gemeinsame Identität schafft. Das hilft in diesen Tagen, die das gerade erst von der Krise genesene Land erneut schütteln.
Auch heute ist Sonnabend. Wir stehen vor der gesperrten Markthalle. Ein Halbstarker hängt vorm geschlossenen, sonst von den greisen Herren mit dem Obstler gesäumten Kiosk herum. Corona-Party sieht anders aus. Am Fenster gegenüber sitzt ein sehr alter Mann. Würde gut zu dieser Szene passen, wenn er jetzt traurig blickte, denke ich. Doch der Mann lächelt. „Bom fim de semana“, ruft er, als er meinen Blick bemerkt. „Schönes Wochenende!“
Der Autor Andreas Daebeler arbeitete fast zwei Jahrzehnte als Lokaljournalist in Pinneberg, zuletzt als Redakteur fürs Hamburger Abendblatt, ehe er im Frühjahr 2018 nach Portugal auswanderte. Er ist unserer Redaktion nach wie vor eng verbunden.