Helgoland/Felde. Mehr als 45.000 Tonnen Bomben warfen die Alliierten über Schleswig-Holstein ab. Auf Hochseeinsel liegen viele Blindgänger.
Das eine Mal auf Helgoland wurde es richtig eng. Bei der Arbeit an einem Blindgänger direkt an der Promenade der Nordseeinsel blieb der Schlagbolzen beim Entfernen des Aufschlagzünders im Detonator stecken. Ein leichter Schlag, und die Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg wäre explodiert. „Ob es wirklich eine Fifty-fifty-Situation war, weiß ich nicht. Das Gefühl war aber so“, sagt Schleswig-Holsteins Chef-Entschärfer Oliver Kinast zu der heiklen Situation vor einigen Jahren. Um ihn herum seien die Leute nervös geworden. Kinast griff nach mehreren gescheiterten Versuchen einer Fernentschärfung schließlich beherzt zur Zange und holte den Bolzen vorsichtig heraus.
Seit mehr als zehn Jahren macht Kinast zwischen Nord- und Ostsee regelmäßig Blindgänger unschädlich. Mehr als 150 sind es bislang. Statistik führt er nicht. Für seinen Beruf müsse man gar nicht besonders mutig sein, sagt der gebürtige Lübecker. Als Junge sei er nur vom Fünf-Meter-Turm ins Wasser gesprungen, weil das die kleine Schwester auch getan habe. „Noch mal muss ich das aber nicht haben.“
Polizisten kämen öfter in brenzlige Situationen als er, ist Kinast überzeugt. Bei ihnen sei die Gefahr aber meist geringer. „Das Risiko beim Entschärfen einer Bombe ist kalkulierbar“, sagt Kinast. Er entscheide schließlich selbst. Entscheide er allerdings doch einmal falsch, „kann das was auf die Ohren geben. Hier sind die Auswirkungen drastischer“.
Nach Angaben des Landeskriminalamts warfen die Alliierten im Krieg mehr als 45.000 Tonnen Bomben über Schleswig-Holstein ab. Allein über Kiel wurden demnach knapp 44.000 Sprengbomben abgeworfen. „Die Blindgängerquote betrug zehn bis 15 Prozent“, sagt Kinast. Viele sind längst unschädlich gemacht. Doch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende entschärfen Kinast und sein kleines Team aus Felde (Kreis Rendsburg-Eckernförde) noch immer regelmäßig die Blindgänger – allein 16 bereits in diesem Jahr.
Ein Grund ist der Bauboom. „Ich würde für kein Grundstück meine Hand ins Feuer legen“, sagt der 51-Jährige. Er rechnet in diesem Jahr mit rund 5000 Anträgen auf eine Sondierung des Baulands durch Spezialisten. „In zehn Prozent der Fälle finden wir dabei tatsächlich Blindgänger oder Munition.“ Neben Kiel ist Helgoland einer der Hotspots. Mehr als 2000 Bomben haben die Experten dort bereits beseitigt.
„Das Schwierigste für die Entschärfer sind die Vorbereitungen“, sagt Kinast. Oft muss er entscheiden, ob beispielsweise eine Norwegen-Fähre aus dem Kieler Hafen auslaufen, die Züge weiterhin fahren dürfen oder gar ein ganzes Krankenhaus geräumt werden muss, wenn es in der Nähe eine Fliegerbombe zu entschärfen gilt. „Wenn bei einer möglicherweise nötigen Sprengung großer Schaden entsteht, weiß es hinterher jeder besser. Und in dem Fall sind schnell mal Millionenschäden drin.“
Manchmal nervt das, wenn Leichtsinnige den Sperrradius als zu groß empfinden. Manchmal bekommt Kinast aber auch Lob - „meist sind es Ältere, die Kriegsgeneration“.
Seine Frau steht hinter dem Beruf des Mannes. „Sonst könnte ich diesen Job nicht machen.“ Ihre Absicherung sei ein Grund gewesen, warum der zweifache Vater ein zweites Mal heiratete. Sein Arbeitgeber – das Land Schleswig-Holstein – honoriert den mutigen Einsatz mit einer allgemeinen Gefahrenzulage. Für besonders knifflige Jobs wie den Fall auf Helgoland gibt es noch einen kleinen Zuschlag.
Kinast hat seit Kindestagen ein Gefühl für Feinmechanik, war jahrelang begeisterter Modellbauer. Neben seinem Schreibtisch steht ein Starfighter. „Ich bin ein Puzzletyp“, sagt er. „Ich repariere auch Uhren.“ Das Entschärfen einer Bombe ist für ihn ein rein technischer Akt. Routine sei diese Arbeit aber nie. Dafür sind die Folgen von Fehlern zu groß. Über den schlimmsten Fall mache er sich aber keine Gedanken, sagt Kinast. „Wenn eine Bombe explodiert, dann geht das so schnell, dass kein Nerv Schmerzimpulse durchschalten könnte.“ Aber: „Wenn ich merke, dass ich Angst kriege, dann höre ich auf.“
Bis dahin bleibt aber weiter viel zu tun. Auf einer Wandtafel in seinem Büro stehen bereits die nächsten Einsätze. Für eine umfassende Suche nach Munitionsaltlasten fehlten derzeit noch Lösungen – nicht nur politisch, sondern auch technisch, sagt Kinast. „Es ist utopisch zu sagen, dass hier im Norden irgendwann keine Kampfmittel mehr liegen.“