Pinneberg. Abendblatt-Hospitant Philipp Wenzel blickt zurück auf seine Zeit an der Theodor-Heuss-Schule – auf Lernen zwischen Baggern und Sandbergen.

Es war ein Alltag zwischen Baggern, jeder Menge Bauschutt und Sandhaufen. Neun Jahre lang war ich Schüler auf einer Baustelle – Schüler der Theodor-Heuss Schule (THS) in Pinneberg. Im vergangenen Jahr habe ich dort mein Abitur gemacht, jetzt gerade bin ich Hospitant bei der Regionalausgabe Pinneberg des Hamburger Abendblatts. Es steht für mich außer Frage, dass ich gern an die Zeit an der THS zurückdenke. Doch was ich in meinen Schuljahren auf der Baustelle erlebt habe, muss unbedingt erzählt werden.

Hunderte aufgeregte Schüler, nervöse Eltern, jede Menge neue Ranzen. Zur Einschulung der neuen Fünftklässler ist die große Sporthalle der Theodor-Heuss-Schule rappelvoll. Die Hitze der Sonne brennt auf das Hallendach, Besucher schwitzen. Es ist der 29. August 2007. Ein Mittwoch.

Zehn Jahre ist das her. Und doch kommt es mir vor, als wäre mein Wechsel aufs Gymnasium erst gestern gewesen. Schon damals war Matthias Beimel Schulleiter der THS und hielt wie üblich seine Rede. „Wir sind hier eine Zauberschule, weil wir eine Zauberschule sein müssen“, sagte er an jenem Sommertag. Wir müssten uns an Improvisation und Schwierigkeiten beim Lernen gewöhnen, da uns die Baustelle einiges abfordern werde. Als ich diesen Satz mit meinen zehn Jahren höre, kann ich nicht viel damit anfangen. Doch mit jedem neuen Schuljahr, jedem nervigen Baugerät und jedem herumirrenden Bauarbeiter wird mir die Bedeutung dieser Worte klarer.

Abrupte Sperrungen, Kabel hängen von der Decke

Heute, im Jahr 2017, muss die Stadt Pinneberg einen traurigen Jahrestag feiern: Die Theodor-Heuss-Schule ist seit einer Dekade Baustelle. Zehn Jahre, von denen ich neun miterlebe. Die Bilder sind noch da: Fast ununterbrochen wird abgerissen und gebaut. Sind an einem Tag die Gänge durch das Schulgebäude noch intakt, hängen am nächsten plötzlich Kabel von der Decke. Abrupte Sperrungen von Klassenräumen und Pausenhöfen gehören zu meinem Alltag auf der Schule. So erinnern es Hunderte Schüler, die das Gymnasium an der Datumer Chaussee seit 2007 besucht haben.

Valentin Kraner ist einer meiner Leidensgenossen – und Vorsitzender des Kinder- und Jugendbeirats in der Stadt Pinneberg. Er ist seit sieben Jahren Schüler an dem Gymnasium. Wir treffen uns auf der Dauerbaustelle, auf der er unterrichtet wird. „Seit meinem ersten Tag wird an der Schule gebaut“, sagt der 16-Jährige. Er kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. „Ich habe in letzter Zeit einige Schulen in Hamburg gesehen. Da wird man schon etwas neidisch“, sagt Kraner.

Ein Lichtblick: Im Jahr 2010 wird immerhin die Sanierung der Aula abgeschlossen, und ich kann den nagelneuen Raum betreten. Zeitgleich muss ich mit meinen Mitschülern jedoch beobachten, wie die Renovierung der Gebäudeflügel weiterhin nur schleppend voran geht. Der Physik-Unterricht muss immer wieder in unser normales Klassenzimmer verlegt werden. Die naturwissenschaftlichen Räume sind wegen ständiger Bauarbeiten nicht tauglich für den Fachunterricht. Doch damit nicht genug: Ich bin Zeuge, wie die Außenfassade der Heuss-Schule über Jahre hinweg nur halbherzig saniert wird. Klopf- und Bohrgeräusche treiben uns regelmäßig zur Weißglut. Und, ach ja, der Innenhof: Ist er zunächst noch ein beliebter Ort zum Zeitvertreib, darf ich ihn ab der elften Klasse nicht mehr betreten. Wir nennen den Hof voller Bauschutt „Tschernobyl“, die Oberstufe Sperrgebiet.

Das Lernen in Pinneberg bleibt während all der Jahre eine Herausforderung, die an des Rektors Zauberschule gemeistert werden muss. Die Improvisation gehört zur Tagesordnung, eben so, wie Beimel es einst prognostizierte. Trotz der widrigen Umstände gelingt es vielen Pädagogen, den Lehrplan umzusetzen und das Geschehen an der Schule gar einzuarbeiten. Im Wirtschafts-Politik-Unterricht schreiben wir Leserbriefe, von denen einige in der Zeitung veröffentlicht werden.

Unvergessen die Mathearbeit in der sechsten Klasse, die 45 Minuten lang von den Tönen einer Bohrmaschine begleitet wird. „Auch ich habe schon Klausuren fünf Meter neben einem arbeitenden Bagger geschrieben“, sagt Leidensgenosse Kraner. Er hat sein Abi noch vor sich. „Mittlerweile gehe ich davon aus, dass ich den Innenhof in meiner Schulzeit nicht mehr betreten werde.“

Trotz akuter Probleme haben sich an der Schule auch Dinge verbessert, das will ich nicht verschweigen. War die THS anfangs noch alt und kaputt, ist sie jetzt wenigstens teilweise modernisiert. „Klassenräume sind saniert, auch naturwissenschaftliche Räume erneuert“, bestätigt Kraner. Ein Armutszeugnis ist der Zustand für mich immer noch. Der Blick in den Innenhof verdeutlicht den Ernst der Lage. „Die Glasfassade wurde vor einigen Monaten durch Sperrholzplatten ersetzt, die dem Gebäude das Licht nehmen und einen modernden Geruch absondern“, sagt Kramer.

Und alles auf dem Rücken der Schüler. Ich weiß noch, wie wir nach jahrelangen und folgenlosen Beschwerden über die Zustände einfach keine Motivation mehr verspürt haben. „Die Schüler, die einst für schnellere Sanierung gekämpft haben, sind mittlerweile einfach nur noch demotiviert“, bestätigt Kraner den auch heute noch herrschenden Frust. „Die Situation hier wird quasi als Fakt hingenommen, den wir eben bis zum Abitur ertragen müssen.“

Laute Bagger sind nur ein Problem an der Heuss-Schule. Ich erinnere mich noch gut an den schleppenden Start ins digitale Zeitalter. Ein funktionierendes Internet darf ich während meiner Schulzeit selten erleben. Auch heute gibt es noch Schwierigkeiten: „Die fehlende digitale Infrastruktur der Schule ist ein Nachteil. Es kann doch nicht sein, dass wir mit einer geringen Menge veralteter Laptops arbeiten müssen, unter denen das Netzwerk alle paar Minuten zusammenbricht“, sagt Kraner.

Im Sommer 2016 endet meine Zeit auf der Dauerbaustelle. Ein Kreis schließt sich. Wieder sitze ich in der großen Sporthalle. Wieder ist es heiß. Es wird geschwitzt. Das Abitur wird überreicht – die Theodor-Heuss-Schule ist auch an diesem Tag noch immer eine Baustelle. Neun Jahre, nachdem ich die Worte meines Schulleiters gehört habe, weiß ich nun, was Matthias Beimel 2007 gemeint hat. Als er das Wort von der Zauberschule wählte.