Pinneberg. Sebastian H. berichtet, er sei im Pinneberger Fahlt angezündet worden. Das ist für ihn der Wendepunkt nach 18 Jahren auf der Straße.

Sebastian H. hat sich im Pinneberger Fahlt sein Nachtlager aufgebaut. Auf dem Spielplatz an der Bahnhofstraße ist es dunkel, der Pfingstmontag 2017 geht gerade dem Ende entgegen. Als er sich in einem Holzhaus schlafen legt, sieht er vier Jugendliche, die auf einer Bank sitzen und kiffen. Auch ein Mädchen ist dabei. Gegen 2 Uhr wird der Obdachlose plötzlich von enormer Hitze geweckt – sein Schlafsack brennt. Gerade noch rechtzeitig kann er sich befreien. Als er aufspringt, rennen die Jugendliche davon. Genau so, berichtet Sebastian H., habe er es in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni erlebt.

Obdachlose immer wieder Opfer von Gewalttaten

Zwei Wochen später sitzt Sebastian H. im Pinneberger Sozialcafé Pino. Seine blonden Haare sind kurz geschnitten, die Fingernägel auch, seine Kleidung ist sauber. Mit seinem gepflegten Erscheinungsbild sieht er nicht so aus, wie man sich einen Wohnungslosen vorstellt. „Ich habe mich nie gehen lassen“, sagt er. Der Anschlag habe sein Leben verändert. „Ich will nicht mehr auf der Straße leben.“ Nach seinem Erlebnis suchte er bei der Pinneberger Diakonie Zuflucht. Dort möchte sich der 35-Jährige wieder eine Perspektive erarbeiten und seinem Leben auf der Straße ein Ende setzen.

Obdachlose werden immer wieder Opfer von Gewalttaten. Zuletzt hatten häufiger ähnliche Fälle in deutschen Großstädten bundesweit Entsetzen ausgelöst – mehrfach auch in Hamburg. Peter Diekmann, der für die Diakonie im Kreis Pinneberg Obdachlose betreut, hat so etwas bislang noch nicht erlebt. „Wir kennen seit zehn Jahren keinen anderen wohnungslosen Menschen, der hier Opfer einer Brandstiftung geworden ist“, sagt der Sozialarbeiter. Sebastian H.s Schilderungen hält er für glaubwürdig.

2016 starben 17 Obdachlose durch Gewalt

Die Zahl der Obdachlosen nimmt zu. Gab es in Deutschland 2010 noch 248.000 Menschen ohne Wohnung, ist die Zahl mittlerweile auf 335.000 Menschen angestiegen. Diese Daten basieren auf Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe.

Aus dem Jahr 2016 sind deutschlandweit 17 Fälle bekannt, bei denen Obdachlose durch Gewalt starben. In acht dieser Fälle waren die Täter selbst nicht wohnungslos. Gründe für Straftaten sind laut BAG vor allem menschenverachtende und rechtsextreme Motive.

Im Kreis Pinneberg wohnen etwa 400 Personen in ordnungsrechtlicher Unterbringung. Weitere 200 verfügen weder über Post- noch Meldeadresse. 20 Personen wohnen in Lauben, Autos oder im Wald. Nach Aussage der Diakonie kümmert sich die Polizei im Kreis insbesondere um kleinere Delikte. Zurzeit gebe es aber keine Schwierigkeiten.

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In den 18 Jahren, die Sebastian H. auf der Straße lebt, ist es nicht der erste Überfall. „Einmal bin ich im Schlafsack zusammengetreten worden.“ Seitdem macht er nicht mehr den Reißverschluss zu, sondern legt den Schlafsack offen über seinen Körper. Das hat ihn im Fahlt wohl auch vor Schlimmerem bewahrt. Acht Jahre lebte er mit einer Gruppe Punks in Hamburg unter Brücken. Danach ging er fast zehn Jahre auf Wanderschaft. „Obdachlose sind eben Ziele, die sich vermeintlich nicht wehren können“, sagt H., der trotzdem kein Mitleid möchte. „Wer sich das Leben auf der Straße aussucht, sollte sich nicht beschweren. Schließlich gibt es immer einen Ausweg.“ Für Sebastian H. war es nicht nur das schreckliche Erlebnis im Fahlt, das ihn überzeugte, nicht länger auf der Straße zu leben.

Er erzählt, dass in der Obdachlosenszene zwei seiner Bekannten ebenfalls Opfer von Brandangriffen wurden. Der eine wurde in Hamburg angezündet, als er unter einer Brücke schlief. Er überlebte. Der andere Freund hatte weniger Glück. Im vergangenen November trat in Köln ein Pärchen so lange auf ihn ein, bis er starb. Danach zündeten sie ihn an. Die Täter wurden jüngst zu langen Haftstrafen verurteilt.

H. sagt, er könne die Verursacher des Feuers im Pinneberger Fahlt nicht wiedererkennen. Deshalb sei er auch nicht zur Polizei gegangen: „Die Jugendlichen waren höchstens 18 Jahre alt und schnell verschwunden. Als ich mich vor den Flammen retten konnte, habe ich sie aber noch lachen gehört.“

Mit 18 Jahren haut der Automechaniker zu Hause ab

Den einen Grund für das Leben auf der Straße gibt es nicht. „Ich hatte hohe Schulden“, sagt der gelernte Automechaniker. Von seiner Familie fühlte sich der gebürtige Schleswiger außerdem im Stich gelassen. Die Mutter habe die Familie für einen neuen Mann verlassen, da war er gerade mal vier Jahre alt. Und für seinen strengen Vater, ein Berufssoldaten, sei er eine Enttäuschung gewesen, so H.. Mit 18 Jahren haute er ab und ließ sein altes Leben hinter sich.

Während seiner Zeit auf der Straße hat Sebastian H. viel erlebt. Er erzählt auch von einem besonders dunklen Kapitel in seinem Leben. Vor zwölf Jahren schnitt sich Sebastian H. die Pulsader auf. Eine Verzweiflungstat im Alkoholrausch. Die lange Narbe ist noch zu sehen. Andere Obdachlose reagierten damals schnell – und retteten ihm so das Leben. „Seit diesem Tag habe ich keinen harten Alkohol mehr angerührt“, sagt H.

Er hat aber auch viel Schönes erlebt. Zu Fuß ist er bis nach Spanien gelaufen, in Deutschland kennt er unzählige Gegenden. Ernährt hat sich der 35-Jährige fast nur von Dosenfutter. Geld nahm er durch Sammeln von Pfandflaschen ein und verdiente es mit kleinen Arbeiten auf Bauernhöfen. „Betteln war nie mein Ding“, sagt H..

Im Gegenteil. Wo er helfen kann, packt er mit an. So half er 2002 beim Hochwasser in Dresden, wurde dafür sogar vom Bürgermeister ausgezeichnet. Und bei der großen Flüchtlingswelle vor zwei Jahren half er in München am Hauptbahnhof einer Organisation, Lebensmittel zu verteilen.

Nun bekommt der Helfer Hilfe. Bei der Beratungsstelle für Wohnungslose wies man ihm eine Bleibe in einer Notunterkunft zu. „Vorher habe ich seit über einem Jahr kein richtiges Bett mehr gesehen. Die ersten Tage konnte ich kaum schlafen, weil das so ungewohnt war“, sagt H.. Auch einen Arzt habe er in Pinneberg erstmals seit Jahren wieder aufsuchen können.

Derzeit wohnt H. noch in der Notunterkunft. Demnächst will er auf den Schäferhof in Appen umziehen, um dort zu wohnen und zu arbeiten. „Irgendwann will ich ja auch mal wieder etwas in die Rentenkasse einzahlen“, sagt H. „Ich möchte komplett neu starten.“ Für ihn überschlagen sich die Ereignisse derzeit. Vorherige Woche reiste er mit der Pinneberger Obdachlosenhilfe in einer kleinen Gruppe nach Berlin. Zwei Tage lang erkundeten sie die Bundeshauptstadt. Mit dabei waren die Betreuer Peter Diekmann und Karen Schueler-Albrecht. Die Reisegruppe traf sich im Bundestag auch mit dem Wahlkreisabgeordneten Ernst Dieter Rossmann (SPD). Auf dem Programm standen außerdem eine Stadtrundfahrt und ein Besuch der SPD-Zentrale.

„Ziel der Reise war es, den ehemaligen Obdachlosen, die jahrelang keinen Bezug zur tagesaktuellen Politik hatten, das politische System wieder näherzubringen,“ sagt Schueler-Albrecht. Im September könnte Sebastian H. sogar an der Bundestagswahl teilnehmen. Normalerweise steht das Personen ohne Meldeadresse nicht zu.

Mit seinen Betreuern ist Sebastian H. in ständigem Kontakt. Ein Rückfall ist bei Wohnungslosen nicht ausgeschlossen. Für ihn spielen solche Gedanken derzeit aber keine Rolle. Schließlich möchte er eine Nacht wie auf den Pinneberger Spielplatz nicht noch einmal erleben.