Elmshorn. Mithilfe des Winternotquartiers in Elmshorn schaffte Gerd Reßke es aus der Obdachlosigkeit. Jetzt besuchte er den Papst in Rom
Gerd Reßke lebte eineinhalb Jahre auf der Straße. Direkt neben dem Elmshorner Rathaus hat er „Platte gemacht“, also draußen auf dem Asphalt geschlafen. Sobald die ersten Mitarbeiter der Verwaltung zur Arbeit erschienen, zog er weiter Richtung Bahnhof. Manchmal schlief er auf dem Bahnsteig weiter.
Als Wiebke Turkat auf ihn aufmerksam wurde, bot sie ihm in der Bahnhofsmission heißen Kaffee an. Das war im November 2015. Die Leiterin der Bahnhofsmission hatte gerade erst die Verantwortung für das Winternotprogramm der Diakonie Rantzau-Münsterdorf übernommen. Sie bot Gerd Reßke im Notquartier an der Gärtnerstraße einen warmen Schlafplatz und Hilfe an. Er war einer von elf Menschen, die dort im vergangenen Winter unterkamen. „Doch Gerd Reßke ist ein Sonderfall“, sagt Wiebke Turkat.
Reßke arbeitet ehrenamtlichin der Bahnhofsmission mit
Ein Jahr später sitzen beide in der Bahnhofsmission an der Bahnhofsstraße wieder bei einer Tasse Kaffee zusammen. Für Gerd Reßke hat sich seitdem vieles verändert. Er arbeitet mittlerweile ehrenamtlich in der Bahnhofsmission zusammen mit den Menschen, die ihn von der Straße geholt haben. Für das Winternotprogramm schließt er morgens und abends die Unterkunft auf und zu, die auch ihm einst Schutz vor dem Erfrieren bot. Wenn das erledigt ist, kann er sich bei Bedarf in seine eigenen vier Wände zurückziehen.
„In diesem Jahr ist so viel passiert, das muss ich erst mal sacken lassen“, sagt Gerd Reßke in seinem leichten sächsischen Dialekt, der auch nach Jahrzehnten in Norddeutschland noch durchschimmert. Nicht nur, dass er wieder eine Wohnung gefunden hat. Vergangene Woche reiste er auch nach Rom zu Papst Franziskus. Das Oberhaupt der Katholiken hatte Menschen, die sich in prekären Lebensverhältnissen befinden, drei Tage lang zum Europäischen Festival der Freude und Barmherzigkeit eingeladen. Gerd Reßke war einer von 4000 Menschen, die dieser Einladung folgten. Auch wenn er konfessionslos ist – vom Papst war er beeindruckt. Drei Meter von ihm entfernt habe der Papst gestanden, umringt von Menschen. „Ich finde ihn sehr glaubwürdig“, sagt Gerd Reßke.
Der gebürtige Leipziger kam schon vor der Wende nach Norddeutschland. Nach zehn Jahren hatte die Staatssicherheit endlich seinen Ausreiseantrag bewilligt. Es verschlug ihn zunächst nach Hamburg. Er arbeitete im renommierten Louis C. Jacob als Koch. Es folgten weitere Stationen im Hotel Hafen Hamburg und im Restaurant Schifferbörse. Zwölf- oder 14-Stunden-Schichten waren keine Ausnahme. Dann bekam er ein Burn-out. „Ich wollte nicht mehr. Ich habe die Tür hinter mir zugemacht und bin gegangen, ich habe einfach alles zurückgelassen.“ Zuletzt hatte er im Restaurants To´n Vossbau in Seestermühe gearbeitet, das pleite gegangen war. „Ich kämpfte zu der Zeit mit Depressionen und Alkohol“, sagt er. Heute hat er beides im Griff. Doch zunächst wollte Gerd Reßke keine Hilfe annehmen. „Ich habe ihm gesagt, wenn er sich nicht meldet, wenn es kalt wird, würde ich auch nicht mehr schlafen können“, sagt Wiebke Turkat. Sie drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. Und tatsächlich rief er an, als die Nächte frostig wurden.
Das Notquartier kann nur eine Übergangslösung sein. Morgens um 9 Uhr musste er wie alle Bewohner die Unterkunft, die dem reinen Erfrierungsschutz dient, verlassen. Jeden Tag meldete er sich bei der Bahnhofsmission, ging zum Sozialamt, suchte nach einer dauerhaften Bleibe. Diesen Auflagen muss jeder nachkommen, der das Winternotquartier aufsucht. Viele scheitern daran, wollen die Hilfe nicht annehmen oder fühlen sich gegängelt. „Es kommen zunehmend Menschen mit psychischen Problemen zu uns“, sagt Turkat.
Die Diakonie hatte das Programm einst für durchreisende Obdachlose in dem städtischen Gebäude eingerichtet. So einer war einst Siegfried Denk.
39 Jahre lebte er auf der Straße, lief quer durch Deutschland. Als er in Elmshorn landete, fand er bei den Diakonie-Mitarbeitern Hilfe. Heute arbeitet er ebenfalls ehrenamtlich mit und lebt in einer kleinen Wohnung in Elmshorn. Erfolgsgeschichten wie diese geben Wiebke Turkat Zuversicht für die künftige Arbeit. „Sie zeigen, dass der Weg zurück in die Gesellschaft möglich ist.“
Die Monate auf der Straße seien für ihn heilsam gewesen, sagt Gerd Reßke. Er habe wieder zu sich gefunden. 2017 will er sich auch Arbeit suchen.