Haselau. Der 15-Jährige gehört zu den größten Musiktalenten im Land. Silvester spielte er seine Zuhörer beim Konzert schwindelig.

Er heißt Tilman Clasen, ist 15 Jahre alt und bringt seinen Instrumenten aus Ebenholz, Buchsbaum oder Pflaumenholz erstaunlich virtuos die Flötentöne bei. Fünf verschiedene Blockflöten spielt der junge Musiker beim Silvesterkonzert in der Reihe „Kultur vor dem Alten Deich“ in Haselau, begleitet am Flügel von seiner Mutter, der Pianistin Anne Clasen, 54. Im voll besetzten Musiksalon herrscht erwartungsvolle Stille, als er das Konzert mit der Sonate F-Dur von Giuseppe Sammartini eröffnet – einer seiner Lieblingskomponisten.

Die Leidenschaft für Musik wurde dem Teenager in die Wiege gelegt. Selten ist diese Floskel so zutreffend wie bei dem Ausnahmetalent aus Haselau. Er lernte bereits als Kleinkind das Notenlesen, spielte im Alter von vier Jahren Klavier und Blockflöte und komponierte zusätzlich eigene Stücke. „Die Werke sind natürlich nicht vergleichbar mit denen des sechsjährigen Mozart“, sagt Tilman. Im zarten Alter von acht Jahren gewann er mit der Blockflöte den Regionalwettbewerb „Jugend musiziert“, viele weitere Bestplatzierungen folgen. Zuletzt konnte er auch den Bundeswettbewerb von „Jugend musiziert“ für sich entscheiden – mit der Höchstpunktzahl. Die Jury attestierte dem Schüler mit den langen braunen Haaren ein großes Talent.

Tilman Clasen beim Haselauer Silvesterkonzert im heimischen Salon
Tilman Clasen beim Haselauer Silvesterkonzert im heimischen Salon © HA | Elvira Nickmann

Seit vergangenem Herbst hat der renommierte Blockflötist Peter Holtslag Tilman unter seine Fittiche genommen. „Das ist schon eine ganz besondere Ehre für ihn“, sagt seine Mutter. Dafür fährt der 15-Jährige alle zwei Wochen zur Hochschule für Musik und Theater nach Hamburg. Momentan bereitet Holtslag ihn auf die Aufnahmeprüfung zum Jungstudium an der Hochschule vor. Besteht er diese, kann Tilman bereits während der Schulzeit mit dem Blockflötenstudium beginnen. Das Abitur will der Zehntklässler aber auf jeden Fall schaffen. „Es kann immer etwas Unvorhersehbares im Leben passieren, ein Unfall beispielsweise. Deshalb möchte ich lieber auf der sicheren Seite sein.“ Auch könne er sich vorstellen, historische Musikwissenschaft mit Latein als Nebenfach zu studieren. Dafür wäre das Abitur Voraussetzung.

Wenn er nicht selbst musiziert, hört er gern klassische Stücke. Am liebsten Jan Dismas Zelenka, der vor allem katholische Messenmusik komponierte. „Auch wenn ich selbst kein großer Kirchgänger bin, gefallen mir seine Werke besonders“, sagt Tilman. Manchmal lese er die Noten klassischer Stücke. „Wenn man das hört, könnte man denken, ich wäre auf halbem Wege in die Psychiatrie“, sagt er darüber und muss lachen. Das gelte auch für seine Hobbys, lateinische Texte zu übersetzen oder durch den Wald zu spazieren. Viel Zeit dafür hat er nicht, denn neben Schule und Musik ist da auch noch seine Freundin. „Da sie auf sehr hohem Niveau tanzt, kann sie zum Glück gut nachvollziehen, wie viel Arbeit ich in meine Musik stecke“, sagt Tilman, der gerne einmal in der Hamburger Laeisz­halle auftreten würde.

Doch nicht nur das Musizieren liegt dem Gymnasiasten. „Tilman ist ein sehr guter Schüler“, sagt Anne Clasen. Bei seinen Mitschülern sei er anerkannt und respektiert. „Ich lasse sie ja auch abschreiben“, scherzt Tilman. Viele davon besuchten auch seine Konzerte. „Das freut mich immer sehr, wenn ich Mitschüler im Publikum entdecke.“ Kurioserweise sei er auf den Musikabenden seines Gymnasiums nervöser als bei seinen Auftritten bei „Jugend musiziert“. „Vor meinen Lehrern und Mitschülern möchte ich immer besonders gut sein. Da mache ich mir selbst manchmal mehr Druck als bei Konzerten vor Fachpublikum.“

Für seine Mutter Anne Clasen ist Tilman „eine Rampensau“

Generell störe es ihn nicht, als Wunderkind betitelt zu werden. „Musik ist meine große Leidenschaft. Ich spiele, weil es mir Spaß macht, und nicht, weil es von mir erwartet wird.“ Das sehe man auf der Bühne, sagt seine Mutter. „Tilman ist eine Rampensau, die unheimlich gerne mit dem Publikum interagiert.“ Nur weil man ein Instrument technisch einwandfrei beherrsche, sei man noch kein erfolgreicher Musiker. „Wichtig ist, mit dem Herzen dabei zu sein.“

Diese Intensität ist besonders in dem kleinen Rahmen des Silvesterkonzerts spür- und hörbar. Während hinter dem Deich die Sonne untergeht, geht sie musikalisch gesehen im Salon gerade auf. Eine besondere Herausforderung ist auch ein Stück, das ursprünglich für Violine komponiert wurde. „Es war verdammt schwer, Atemstellen zu finden“, sagt Tilman. Das Publikum lacht. Selbst zum Notenblättern bleibt hier keine Zeit, sodass er zwei Notenständer benötigt. Seine Finger bewegen sich so unglaublich schnell, dass man mit dem Hören kaum nachkommt. Nach dem Konzert bringt es ein Zuhörer in einer kleinen Dankesrede auf den Punkt: „Tilman, du hast mich schwindelig gespielt.“