Wedel. Ernst Barlach Museum Wedel zeigt Porträts von August Sander und Werke einer Kölner Künstlergruppe. Künstlern ging es um Sozialkritik.

In ihrem Sonntagsstaat mit Stock und Hut stehen die drei Männer auf einer aufgeweichten Wiese direkt vor dem Fotografen, der hinter dem Tuch seiner Plattenkamera verschwunden ist und sie dringend bittet, sich fünf Sekunden lang absolut nicht zu bewegen. Merkwürdig eingefroren wirkt dieses Bild, das August Sander im Jahr 1914 aufgenommen hat. „Jungbauern“ wird er es nennen, ohne den Namen der Porträtierten zu erwähnen.

Das tut er fast nie, seine Fotografien tragen Titel wie „Bauernmädchen“, „Der Herrenbauer“, „Handlanger“, „Katholischer Geistlicher“, „Kommunistischer Führer“, „Zöllner“ oder „Der junge Kaufmann“. 1929 veröffentlicht August Sander ein Buch unter dem Titel „Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts“.

Alfred Döblin, der das Vorwort dafür verfasst hat, schreibt: „Man hat vor sich eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten 30 Jahre. Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern, nicht etwa Trachten, das schafft der Blick dieses Fotografen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein fotografisches Können.“

Was Döblin nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass Sander auch inszeniert hat, dass er bei der Wahl seiner Modelle vermutlich nichts dem Zufall überließ, sondern stets sein Ziel vor Augen hatte, die Menschen als Repräsentanten ihrer Berufsgruppe und ihrer sozialen Herkunft darzustellen, eben als Anschauungsmaterial eines sozialen Querschnitts der deutschen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Heute wissen wir, dass dieser bedeutende Fotograf dabei auch gelegentlich manipuliert hat, die beiden rechten Männer auf dem eingangs erwähnten Bild sind zum Beispiel Büroangestellte und keineswegs Jungbauern, sondern sollen diese nur möglichst typisch verkörpern.

Das Ernst Barlach Museum Wedel zeigt zurzeit eine Ausstellung, in der es einerseits um Sanders epochales Porträt­projekt geht, zugleich aber um die künstlerischen und gesellschaftlichen Einflüsse, die seine Arbeit in der Weimarer Republik geprägt und beeinflusst haben. „August Sander und die Kölner Progressiven 1920 bis 1933“ heißt die Schau, in der um die 60 Fotografien von Sanders etwa 40 Gemälden und Grafiken von den „Kölner Progressiven“ gegenübergestellt werden.

Bereits 1910 hatte Sander sein kommerziell recht erfolgreiches Atelier in Linz an der Donau aufgegeben, um nach Köln zu ziehen. Doch erst nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg kam er mit der linken Künstlergruppe in Kontakt, deren wichtigste Protagonisten die Maler Franz Wilhelm Seiwert und Heinrich Hoerle waren. Die ästhetischen und vor allem die politischen Übereinstimmungen zwischen den damals noch sehr jungen Kölner Malern und dem bereits auf die 50 zugehenden Fotografen waren zweifellos groß. Wie weit sich das in Sanders Porträtauffassung widerspiegelt, ist das Grundthema der Ausstellung.

In ihren flächigen, oft von kräftigen Farben geprägten Bildern und den stark strukturierten und vielfach geometrisch aufgegliederten Grafiken ging es den Künstlern um eine sozialkritische Bestandsaufnahme ihrer Zeit. Die Menschendarstellungen sind auf schematisierte Typen reduziert, die die Angehörigen der verschiedenen Klassen darstellen. Dahinter tritt das Individuelle zurück, was sich mit August Sanders typisierenden Ansatz durchaus vergleichen lässt. Die Menschen auf den Bildern von Hoerle, Seiwert und anderen „Progressiven“ werden mitunter fast völlig gesichtslos dargestellt.

Auch Sander verzichtet bewusst auf die individuelle Zuordnung seiner Porträts, die er als typische Vertreter ihres Berufsstandes oder – um es marxistisch zu formulieren – ihrer Klassenzugehörigkeit abbildet. Genau das ist es auch, was seine intellektuellen Zeitgenossen wie Kurt Tucholsky begeistert. Der schrieb 1930: „Sander hat keine Menschen, sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, dass das Individuum für die Gruppe genommen werden darf.“ Wenn sich Sander darauf beschränkt hätte, wäre er grandios gescheitert, denn heutige Betrachter werden kaum mehr in der Lage sein, in seinen Fotografien den typischen Arbeiter, Bauern, Unternehmer oder Gelehrten der Weimarer Zeit zu sehen. Heute erschließt sich das „Antlitz der Zeit“ weit eher aus der Individualität der Menschen, die uns auf diesen Bildern so lebendig gegenübertreten. Die Qualität dieser meisterhaften Menschenbilder besteht vor allem darin, dass uns mit dem Blick auf die Gesichter eine ferne Zeit wieder ganz nah erscheint.

August Sander und die Kölner Progressiven. Ernst-Barlach-Museum Wedel, Mühlenstraße 1, bis 23.8., Di­-So 11.00-18.00, www.ernst-barlach.de